Das Thema Behinderung steht in der Entwicklungspolitik dort, wo die Behinderten selbst stehen: weit unten. Die UN-Behindertenrechtskonvention will diesen Zustand ändern und hat Inklusion zu einem ihrer acht Grundprinzipien gemacht. Der Begriff hat eine enorme Wirkung entfaltet und setzt sich auch im deutschen Sprachgebrauch durch. Zur Inklusion gehört alles, was mit Gleichstellung zu tun hat: gleiche Zugangsmöglichkeiten zu sozialen Einrichtungen, eine aktive Teilhabe, sich als Mitglied der Gesellschaft fühlen zu können – auf Augenhöhe mit allen anderen. Das nennt man auch Barrierefreiheit.
Wer Barrieren überwinden muss, die andere nicht überwinden müssen, kann sich nicht auf Augenhöhe mit den anderen fühlen. Was für Barrieren gibt es? Was stellt sich ein nicht Behinderter, der sich bislang keine Gedanken darüber gemacht hat, unter Barrieren vor? Wie kann man das Interesse von Entwicklungsorganisationen wecken? Ich glaube, es klappt nicht, wenn wir pauschal über Behinderung reden: Man muss ins Detail gehen und nicht nur über Sachverhalte, sondern über Menschen reden, so dass das bedrohliche Wort Behinderung konkret wird. Der Sammelbegriff muss aufgelöst werden und man muss die Barrieren für jede einzelne Behinderung genau ansehen und benennen. Nur so kann man sie beseitigen.
Autoren
Robert Remarque Grund
(gehörlos) ist staatlich geprüfter Reiseverkehrs- kaufmann und Vorsitzender des Vereins „ZUSAMMEN – Hamhung“, der ein Bildungszentrum für gehörlose, blinde und nichtbehinderte Kinder in Hamhung in Nordkorea plant. Er vertritt zudem den Weltverband der Gehörlosen in Nordkorea.Barbara Unterbeck
(hörend) ist stellvertretende Vorsitzende des Vereins und zeitweilig ehrenamtlich als Arbeitsassistenz für Robert Grund in Nordkorea tätig.Ich wurde gehörlos geboren und gehöre zur vierten Generation einer gehörlosen Familie. Früher sagte man taubstumm, und in der Schule sagten die Lehrer immer: „Dumm kommt von stumm.“ Gehörlosigkeit ist in der nicht behinderten Gesellschaft die am wenigsten verstandene Behinderung. Unsere Barriere ist die deutsche Sprache in Wort und Schrift, denn unsere Muttersprache, die deutsche Gebärdensprache, funktioniert völlig anders, hat eine eigene Grammatik und muss von denen, die sie nicht als Muttersprache erwerben, genauso erlernt werden wie jede gesprochene und geschriebene Sprache.
Musterbeispiel USA
Diese sprachliche Ausgangssituation hat kulturelle Folgen: Gehörlose können die Welt nur sehen, sie können nichts hören, wirklich gar nichts. Wenn die Natur entschieden hat, das Gehör wegzulassen, dann ist es für das ganze Leben weg. Es gibt keine medizinische oder technische Möglichkeit, es wiederherzustellen. Einem Blinden wird niemand eine Brille anbieten, aber Gehörlosen werden immer wieder Hörgeräte angeboten: Da muss doch was zu machen sein, heißt es dann. Nein, da ist nichts zu machen.
Trotzdem war die gesamte Schulbildung auch von Gehörlosen bis 2010 auf der gesprochenen Sprache aufgebaut. Wir mussten sprechen lernen. Bis 2010 galt in der Schulbildung das Prinzip des Oralismus, der Sprecherziehung. Als Gehörlose galten wir quasi erst dann als richtige Menschen, wenn wir sprechen konnten, auch wenn uns sicher in den meisten Fällen kaum einer richtig verstehen kann. Und wir selbst können auch nicht hören, was wir „sprechen“.
Zudem hat unter dem Druck des Oralismus die Schulbildung erheblich gelitten: Die Lehrpläne waren verkürzt gegenüber den Regelschulen, weil das Sprechen lernen fast die Hälfte der gesamten Schulzeit erforderte. Es wurde sehr viel auswendig gelernt und wenig Gewicht darauf gelegt, ob das Gelernte überhaupt verstanden wurde. Wir erleben gerade die Anfänge, wie die Gehörlosengemeinschaft versucht, sich von diesem Trauma zu befreien.
Es wird noch dauern, bis Gehörlose sich in der Gesellschaft frei bewegen können. Dafür müssen beide Seiten aufeinander zugehen: Die Gehörlosen müssen sich Zugang zur Regelschulbildung erobern und Mut haben, die seit drei Jahren herrschenden neuen Bedingungen zu nutzen für eine bessere Bildung, für anspruchsvollere Berufe. Ein Musterbeispiel sind auf diesem Gebiet die USA. Dort fühle ich mich nicht als Außenseiter: Gebärdensprache kann dort in der Schule gelernt werden, und viele Amerikaner beherrschen sie. Die USA haben sich dem Oralismus nicht angeschlossen und sind Welten entfernt von der Situation der Gehörlosen in vielen anderen Ländern der Welt. Schweden und Finnland haben Anfang der 1980er-Jahre den Oralismus abgeschafft und sind das europäische Paradies der Gehörlosen.
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Was bedeutet es, als Gehörloser in der Entwicklungszusammenarbeit tätig zu sein? Aus der Erfahrung mit der von mir geleiteten Behindertenorganisation „ZUSAMMEN – Hamhung“ für gehörlose, blinde und nichtbehinderte Kinder in Nordkorea kann ich sagen, dass die Zugangsbedingungen für Behinderte um ein Vielfaches schwerer sind als für nicht Behinderte. Meine Barriere ist die Sprache in Wort und Schrift, als Gehörloser brauche ich eine Arbeitsassistenz für die Kommunikation. Nach deutschem Recht steht sie mir nur zu, wenn ich einen Arbeitsvertrag mit einem Arbeitgeber vorlegen kann. Wir betreiben unsere Organisation aber ehrenamtlich. Ich habe einen langen Kampf mit Behörden und Parteien hinter mir, um eine bezahlte Arbeitsassistenz dafür gestellt zu bekommen. Nach fünf Jahren habe ich im Auswärtigen Amt dieses Jahr das erste Mal einen Gebärdensprachdolmetscher bekommen. Eine Stunde kostete bis vor kurzem 55 Euro, jetzt 75 Euro Honorar. Das habe ich über viele Jahre, auch für unsere Organisation, immer selbst bezahlen müssen.
Für mich als Gehörlosen ist es sehr schwer und aufwendig, einen Projektantrag zum Beispiel an die Europäische Union zu verfassen. Und wenn er dann endlich fertig ist, gelangt er in die Hände von Gutachtern, die keine Ahnung haben. Die Chancen für einen Gehörlosen sind unter diesen Bedingungen gleich Null, das habe ich schmerzhaft erfahren müssen. Das Thema Behinderung beziehungsweise Gehörlosigkeit in der Entwicklungszusammenarbeit haben in der Regel Hörende besetzt, die sicher mit viel gutem Willen, aber allzu oft mit genauso viel Inkompetenz ihre gut gemeinten Ideen umsetzen dürfen.
„Gehörlose empfinden sich als Weltgemeinschaft“
Die UN-Behindertenrechtskonvention dringt ausdrücklich darauf, dass Behinderte ihre Angelegenheiten in die eigenen Hände nehmen. Insofern liegen Projekte zu Gehörlosigkeit, solange sie in den Händen von Hörenden liegen, weit unter dem von der Konvention geforderten Standard. Um das zu ändern, schlage ich Tandem-Projekte vor: Gehörlose bekommen Zugangsbedingungen, die ihrer Behinderung entsprechen, das heißt bezahlte Arbeitsassistenz und Dolmetscher, genauso wie ein Rollstuhlfahrer seinen Rollstuhl gestellt bekommt und ein Blinder seine Braille-Computer und einen weißen Stock. Ein Gehörloser ohne Arbeitsassistenz ist wie ein Rollstuhlfahrer ohne Rollstuhl.
Wo soll man anfangen? Hier und jetzt: Gehörlose können schon im eigenen Land lernen, wie man Themen findet, Ziele formuliert, Projekte aufbaut. Es gibt großen Bedarf an einer Infrastruktur, die es den Gehörlosen ermöglicht, sich zu finden und sich untereinander auszutauschen. Das ist ein wichtiger Schritt aus der sozialen Isolation. Mit Arbeitsassistenz und unter Anleitung von projekterfahrenen Trainern ist schnell ein Anfang möglich. Es gibt gehörlose junge Leute, die sich sozial engagieren möchten. In ein paar Jahren sind dann Kandidaten da, die in die internationale Entwicklungszusammenarbeit einsteigen können. In Deutschland gibt es übrigens auch eine erhebliche Anzahl von Gehörlosen mit Migrationshintergrund. Da haben wir bereits im eigenen Land die Welt in einer Nussschale.
Wir Gehörlosen empfinden uns als eine Weltgemeinschaft und haben bereits viele internationale Verbindungen untereinander. Wir begrüßen uns mit Umarmungen, wenn wir uns erkennen. Wenn wir die Möglichkeit bekommen, auf Augenhöhe mitzumachen in der deutschen und internationalen Entwicklungszusammenarbeit, dann werden wir das ernsthaft tun, und die Behinderung Gehörlosigkeit wird auf der Aufmerksamkeitsskala schon bald ein Stück nach oben klettern.
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