Das Risiko, an Demenz zu erkranken, wächst mit zunehmendem Lebensalter - unter den über 90-Jährigen leidet jeder Dritte an der Beeinträchtigung von Gedächtnis, Denkvermögen und Sozialverhalten. Weil die Zahl älterer Menschen steigt, wird sich auch die der Demenzkranken erhöhen. Der Schweizer Sozialarbeiter und Gestalttherapeut Martin Woodtli hat in der nord-thailändischen Stadt Chiang Mai ein Heim für Demenzkranke aus der Schweiz und aus Deutschland aufgebaut: Die Einrichtung Baan Kamlanchay - zu deutsch „Begleitung des Herzens".
Sie haben das Heim in Thailand aus persönlichen Gründen aufgebaut: Sie haben Ihre an Alzheimer erkrankte Mutter betreut. Warum haben Sie sie nicht in einem Schweizer Pflegeheim untergebracht?
Meine Mutter war sehr aktiv, sie hätte in einem Pflegeheim medikamentös ruhig gestellt werden müssen. Das wollte ich nicht. Die Pflegerinnen und Pfleger in diesen Heimen haben kaum Zeit für die Patienten. Es ist schwierig, für einen demenzkranken Menschen einen passenden und bezahlbaren Platz zu finden. Ich bin zur Einsicht gelangt, dass das Angebot in der Schweiz mangelhaft ist. In Thailand ist eine bessere Betreuung möglich - zu einem günstigeren Preis. Deshalb bin ich mit meiner Mutter nach Chiang Mai gezogen.
Wie werden denn die Demenzkranken in Baan Kamlangchay betreut?
Wir haben vierzig Angestellte und beherbergen zurzeit zehn Patienten, acht aus der Schweiz und zwei aus Deutschland. Auf eine Person kommen drei Pflegerinnen, die sich abwechseln. Die Demenzkranken werden rund um die Uhr begleitet und betreut. Sie betätigen sich kreativ, sitzen im Freien oder machen Ausflüge. Es kommt auch zu Begegnungen im Quartier, denn die Nachbarn haben keine Berührungsängste. Unsere Einrichtung ist nicht abgekapselt von der Umwelt wie die Pflegeheime in Europa. Das Wichtigste aber ist, dass die Betreuung von Herzlichkeit geprägt ist. Thailänderinnen und Thailänder zeigen gegenüber älteren Menschen großen Respekt und pflegen einen liebevollen Umgang mit ihnen.
Warum wird alten Menschen in Thailand mehr Respekt entgegen gebracht als bei uns?
Das hängt wohl nicht zuletzt mit der Religion zusammen. Nach buddhistischem Glauben wird Aufopferung für andere Menschen im nächsten Leben belohnt. Daran glauben die Menschen, und das hat gesellschaftliche Auswirkungen: Der Pflegeberuf ist in Thailand angesehen und wird verhältnismäßig gut bezahlt. Die Pflegerinnen sind entsprechend motiviert und üben ihren Beruf mit Freude aus.
Die Pflegerinnen schlafen nachts auf einer Matratze neben den Patienten. Geht die Aufopferung nicht etwas weit?
Die große Nähe zu den Patienten ist für die Pflegerinnen normal. In Thailand werden alte Menschen innerhalb der Familie betreut. Die meisten Thailänder - vor allem die Frauen - haben Erfahrung mit der Pflege alter und kranker Menschen. Sie waren schon als Kinder daran beteiligt. Ich staune immer wieder über die große Selbstverständlichkeit, mit der die Pflegerinnen ihre Aufgabe ausüben. Auch Körperkontakte - ein zentrales Bedürfnis demenzkranker Menschen - sind selbstverständlich.
Die Pflegerinnen sprechen thailändisch, die Patienten deutsch. Ist das nicht ein Problem?
Zu Beginn kann es ein Problem sein. Bei zunehmendem Verlust der kognitiven und sprachlichen Fähigkeiten ist es aber eher ein Vorteil. Die Bedeutung der verbalen Verständigung tritt in den Hintergrund, und der Demenzkranke sucht nach anderen Kommunikationsformen. Auch für die Pflegerinnen gibt es einen Vorteil: Demenzkranke beschimpfen einen manchmal, und man gerät in Versuchung, mit ihnen zu streiten. Ohne sprachliche Kommunikation passiert dies nicht.
In Thailand ist nicht nur die Sprache anders. Fühlen sich Demenzkranke wohl in einer völlig fremden Umgebung?
Ich glaube, Demenzkranke vermissen ihre Heimat nicht. Sie leben in der Welt der bleibenden Erinnerungen, die sie atmosphärisch einordnen. Wo sie sich befinden, spielt dabei keine Rolle. Im Fluss von Chiang Mai zum Beispiel sehen manche den Rhein. Für die 82-jährige Bertha war es der Bodensee: „Ach, der Bodensee ist heute wieder friedlich", pflegte sie zu sagen, wenn die Sonne über dem Fluss Ping unterging. Ähnlich verhält es sich mit Bezugspersonen: Demenzkranke im fortgeschrittenen Stadium erkennen Angehörige nicht und vermissen sie somit wohl auch nicht. Unsere Patienten erleben in der letzten Phase ihres Lebens schöne Momente, und darauf kommt es an.
Würden Sie in Baan Kamlangchay auch thailändische Patienten aufnehmen?
Nein. Wir hatten zwar schon entsprechende Anfragen, doch wir können keine Thailänderinnen und Thailänder aufnehmen. Dazu bräuchte es ein anderes Konzept und diverse Bewilligungen von den Behörden. Unser Angebot richtet sich ausschliesslich an deutschsprachige Europäer.
Wenn Demenzkranke in der Schweiz oder in Deutschland die Pflege nicht finanzieren können, springt der Staat ein. Einen Pflegeplatz in Thailand müssen die Kranken und ihre Angehörigen selbst finanzieren. Ist Ihre Institution ein Heim für Reiche?
Natürlich ist es nicht für alle Menschen möglich, sich in Baan Kamlangchay betreuen zu lassen. Doch ein Platz in unserer Institution ist dank der niedrigeren Lebenshaltungs- und Lohnkosten wesentlich billiger als ein Pflegeplatz in Deutschland oder in der Schweiz. Muss ein Demenzkranker in der Schweiz in ein Pflegeheim, ist sein Erspartes in kürzester Zeit aufgebraucht.
In den reichen Ländern gibt es immer mehr alte Menschen, die Gesundheitskosten steigen, es fehlt an Pflegepersonal. Ist die Entsendung alter Menschen in Billiglohnländer in Ihren Augen eine Lösung?
Nein, es kann natürlich nicht die Lösung sein, die Pflege in Billiglohnländer auszulagern. Wir müssen zu Hause nach neuen Lösungen suchen. Baan Kamlangchay ist in diesem Sinne kein verallgemeinerbares Modell. Aber Baan Kamlangchay ist ein Beispiel dafür, was entstehen kann, wenn man die gewohnten Wege verlässt. Angesichts der demographischen Entwicklung und der Zunahme von Demenzerkrankungen sind kreative Ansätze gefragt. Das Gesundheitssystem muss sich wandeln und den Bedürfnissen von Betroffenen und Angehörigen vermehrt Rechnung tragen.
Das Gespräch führte Charlotte Walser, InfoSüd
Martin Woodtli leitet das Heim „Baan Kamlanchay" - Begleitung des Herzens - in Thailand, in dem demenzkranke Schweizer und Deutsche versorgt werden. Die Einrichtung feiert in diesem Jahr ihr fünfjähriges Bestehen.
In der Schweiz zeichnet sich ein Mangel an Pflegepersonal ab
Mit der Alterung der Bevölkerung wächst der Bedarf an Pflegepersonal. Laut einer aktuellen Studie des Schweizerischen Gesundheitsobservatoriums benötigen die Schweizer Spitäler, Alters- und Pflegeheime bis zum Jahr 2020 rund 25.000 zusätzliche Fachkräfte. Dies entspricht einem Zusatzbedarf von 13 Prozent. Die Rekrutierung der Fachkräfte dürfte schwierig werden, denn ab 2010 sinkt die Zahl der 18- bis 20-Jährigen, die eine Ausbildung beginnen, jährlich um 1 bis 2 Prozent. Laut den Bevölkerungsprognosen für die Schweiz wird der Anteil der 65-Jährigen und Älteren bis 2020 um 400.000 Personen und damit um 34 Prozent zunehmen, während jene der 20- bis 64-Jährigen voraussichtlich nur um 200.000 Personen oder 4 Prozent wächst.
Die Studie des Gesundheitsobservatoriums bildet die Grundlage für einen Bericht über Maßnahmen gegen den Mangel an Pflegepersonal, der bis Ende Jahr vorliegen soll. Im Vordergrund steht die Frage, wie die Pflegeberufe attraktiver gemacht werden können. Weitere Vorschläge sind die Erhöhung der Anzahl der Ausbildungsplätze, die Förderung einer längeren Berufstätigkeit und die Unterstützung der beruflichen Wiedereingliederung. Auch die Anwerbung von Pflegepersonal aus dem Ausland ist eine Option. Bereits heute arbeiten in Pflegeheimen überdurchschnittlich viele Ausländerinnen und Ausländer. (IS)
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