Sie sind im nigerianischen Bundesstaat Kaduna aufgewachsen, wo der Streit um die Einführung des islamischen Rechts 2001 zuerst aufgeflammt ist. Waren die Beziehungen zwischen Christen und Muslimen in Ihrer Jugend schon ein Problem?
Nein. Nord-Kaduna ist überwiegend muslimisch, aber ich bin im Süden Kadunas aufgewachsen, das zum religiös gemischten Streifen in der Mitte Nigerias gehört. In meinem Geburtsort lebten Christen und Muslime. Wir wuchsen zusammen auf und hatten ein freundschaftliches Verhältnis. Der Ort ist noch immer gemischt und wir versuchen, die Gewalt fernzuhalten.
Sind fundamentalistische Tendenzen stärker geworden?
Ja. Das begann mit der Einführung des auf der Scharia beruhenden Rechts in den Bundesstaaten Kaduna und Zamfara ab 2001. Der damalige Gouverneur von Kaduna war aber klug genug, den Leuten die Wahl zu lassen: Man kann sich entweder an ein Scharia-Gericht wenden oder an ein normales staatliches. Schlimmer wurde es mit Boko Haram ab 2002. Ihre Hauptziele waren die vollständige Einführung der Scharia, die Islamisierung des Nordens von Nigeria und der Widerstand gegen westliche Bildung.
Hat die von Boko Haram verursachte Krise Ihre Kirche in Kaduna betroffen?
Ja. Das Seminar der Baptisten in Kaduna wurde vor zwei oder drei Jahren völlig niedergebrannt und zahlreiche Kirchen wurden zerstört. Das hat uns aber nicht davon abgehalten, den Dialog und die Verständigung mit Muslimen zu suchen. Zu Beginn war das schwierig. Zum wahren Christentum gehört es, Vergebung zu praktizieren, aber das ist sehr schwer, wenn Deine Eltern oder Kinder getötet worden sind.
Gibt es auch unter Christen fundamentalistische Tendenzen?
Nein. Die Führung der Kirchen in Nigeria und der Christenrat sind dagegen eingeschritten und haben so etwas entschieden verurteilt. Unter der Bedrohung sind Nigerias Kirchen nun gestärkt, die Menschen stehen entschiedener zu ihrem Glauben. Unsere erste Aufgabe als Christenrat ist es, uns für Frieden einzusetzen. Wir setzen uns in der ganzen Kirche mit Hilfe eines nationalen Gremiums für interreligiösen Dialog für Gespräche ein. Organisationen der Zivilgesellschaft sollten sich auch beteiligen. Und wir sprechen mit der Regierung darüber, dass sie ihre Anstrengungen verstärkt.
Was erwarten Sie vom Staat? Polizeischutz für Kirchen zum Beispiel?
Am wichtigsten ist, die Wurzel des Problems anzugehen. Es kursieren Behauptungen, wonach einige in der Regierung und in den Sicherheitskräften Verbindungen zu Boko Haram haben und sie aus politischem Kalkül fördern. Nach der Wahl von Goodluck Jonathan zum Staatspräsidenten im April 2011 ist die Gewalt schlimmer geworden. Eliten aus dem Norden dachten, sie wären an der Reihe zu regieren, und als sie verloren, gab es eine ernste Krise mit vielen Toten. Wir haben den Verdacht, dass noch immer einige in der Regierung die Rolle des Paten von Boko Haram spielen und sie schützen.
Begehen auch Sicherheitskräfte im Kampf gegen Boko Haram Gräueltaten?
Bei Einsätzen, etwa im März in der Stadt Baga, sind Unschuldige getötet worden. Das kann man nicht billigen, schließlich sind die Sicherheitskräfte dafür geschult, mit solchen Situationen umzugehen. Aber die Bürger haben eine Mitverantwortung. Wir haben die Vorstände von Gemeinschaften und Haushalten ermutigt, alle Personen der Polizei zu melden, die verdächtig sind oder bekanntermaßen insgeheim zu Boko Haram gehören. Wenn sie das nicht tun und die Polizei dann erfährt, dass eine Gemeinschaft Mitglieder von Boko Haram beherbergt, und eingreift, dann tragen die ja kein Schild – die Polizei kann nur schwer erkennen, wer wer ist. Doch natürlich appellieren wir an die Sicherheitskräfte, keine Unschuldigen zu verletzen.
Müssten sie dafür mehr zur Rechenschaft gezogen werden?
Haben sie denn absichtlich Unschuldige verletzt? Das sollten die Gerichte beurteilen. Der Präsident und das Parlament haben verschiedene Kommissionen eingesetzt, um die Ereignisse zu untersuchen.
Staatspräsident Jonathan hat Gespräche mit Boko Haram vorgeschlagen und der Gruppe eine Amnestie angeboten. Kirchenführer haben das kritisiert. Warum?
Darüber sind einige von uns in der Tat sehr besorgt. Eine Amnestie ist gut, aber man kann den Fall Boko Haram nicht mit dem Konflikt im Nigerdelta vergleichen. Hier kämpften Menschen für Gerechtigkeit und Fairness. Der damalige Präsident Umaru Yar’Adua hat 2009 eine Amnestie für den gewaltsamen Kampf dort gewährt und das hat zu Frieden geführt. Boko Haram aber kämpft nicht gegen Ungerechtigkeit oder wirtschaftliche Vernachlässigung. Der Ruf nach einer Amnestie kam nicht von Boko Haram selbst, sondern von Ältesten aus dem Norden und früheren Staatspräsidenten. Als Präsident Jonathan ein Komitee dazu einsetzte, sagte Boko Haram, sie trauten dem nicht und akzeptierten keine Amnestie. Wir haben einen Dialog mit muslimischen Führern, aber nicht mit Boko Haram, weil deren Führer sich nicht zu erkennen geben – wir wissen nicht, wer sie sind. Und wer sollte amnestiert werden? Wer wird profitieren – Boko Haram oder diejenigen, die nach einer Amnestie rufen? Ich habe den Eindruck, dass sich Einige bereichern wollen.
Ist denn eine Amnestie mit Geld verbunden?
Wer amnestiert wird, bekommt die Gelegenheit zu einer Ausbildung. Als die Amnestie für die Rebellen im Nigerdelta kam, riefen Bundesstaaten aus dem Norden nach einer Amnestie auch für die, die den Islam propagieren. Aber was ist dann mit dem Südwesten des Landes und der großen Bevölkerungsgruppe der Yoruba? Im Mai habe ich gelesen, dass eine Gruppe von dort erklärt hat: Wenn die Regierung Boko Haram amnestiert, dann soll sie auch für uns anfangen, eine spezielle Amnestie zu planen.
Wozu soll das nötig sein? Von Gewaltkonflikten im Westen Nigerias habe ich noch nichts gehört.
Genau das sagt diese Gruppe ja: Müssen wir erst zu Gewalt greifen, bevor die Regierung sich auch für uns interessiert? Wegen der damit verbundenen finanziellen Anreize werden sie auch eine Amnestie verlangen, und wenn sie keine kriegen, kann es sein, dass sie ein eigenes Problem anzetteln.
Heißt das, bei dem Ruf nach einer Amnestie geht es im Grunde um die Verteilung von Staatsgeld?
Jeder weiß, dass die Leute, die eine Amnestie verlangen, genau dahinter her sind. Und wir reden hier von einer Amnestie für barbarische Morde – die Täter sollen von der Regierung Geld erhalten und vielleicht eine Ausbildung im Ausland. Doch was passiert mit den Opfern, die geliebte Menschen verloren haben oder Gliedmaßen oder ihr Hab und Gut? Wir sollten als erstes nach Wegen suchen, ihre Wunden zu heilen und ihnen eine gewisse Kompensation zu verschaffen.
Wenn es keinen Dialog mit Boko Haram gibt, weil man deren Führer nicht kennt, ist dann die einzige Möglichkeit, dass die Sicherheitskräfte die Gruppe verfolgen und bekämpfen?
Die Regierung hat erklärt, dass die erste Aufgabe des Amnestiekomitees nicht ist, eine Amnestie zu genehmigen, sondern nach Wegen zu suchen, mit Boko Haram ins Gespräch zu kommen. Das könnte ein Weg sein.
Das Gespräch führte Bernd Ludermann
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