Großgrundbesitzer im Äther

Brasilien hat mehr als einen Berlusconi: Zehn Familien kontrollieren die Medienlandschaft. Politische und wirtschaftliche Interessen sind eng miteinander verzahnt. Alle Versuche, das zu ändern, sind bislang gescheitert.

Die brasilianische „Sendung mit der Maus“ ist alles andere als kinderfreundlich. Sie hat nur rein äußerlich eine Gemeinsamkeit mit der preisgekrönten deutschen Sendereihe: Ihr Moderator, der 57-jährige Carlos Roberto Massa – seit Kindesalter „Ratinho“ (kleine Maus) genannt, weil er bei Fußballspielen die Bälle zu klauen und blitzartig zu verschwinden pflegte – wird in seiner Sendung von einer Plüschmaus begleitet, die schräge Kommentare zum Studiogeschehen abgibt. Weitere Markenzeichen sind ein derbes Vokabular und die grobe Verletzung von Persönlichkeitsrechten.

Massa fordert „Knast“ für Diebe und korrupte Politiker, verteilt Jobs, Krankenhilfe und Medikamente, schlichtet Ehekrach und Familienfehden, zieht Frauenrechtlerinnen und Homosexuelle durch den Kakao und preist als Macho die dreitausendjährige Tugend des „Auge um Auge, Zahn um Zahn“. Manch einer hängte ihm Prozesse an den Hals wegen gestellter Szenen und Täuschung der Zuschauer – die Einschaltquoten schossen trotzdem in die Höhe.

Autor

Frederico Füllgraf

ist freier Autor und Filmemacher in Brasilien.

Massas Karriere zeigt auch, wie eng in Brasilien Medien, Politik und Privatwirtschaft miteinander verflochten sind und warum es so schwierig ist, die Medienlandschaft zu demokratisieren. Sein Handwerk hat Massa bei Luis Carlos Alborghetti gelernt. Der kreierte in den 1970er Jahren das Genre der „Polizeistunde“ im Privatfunk der südbrasilianischen Metropole Curitiba. Mit seiner „Knast“, Cadeia, genannten, allmorgendlichen Live-Kriminalrevue eroberte er die Gunst der Zuhörer und schaffte den Sprung in die große Politik. Zuerst als Stadtverordneter, dann als Landtagsabgeordneter vermischte Alborghetti seine rüde Botschaft von Recht und Ordnung mit pietistischer Armenfürsorge – der Politiker als Almosenverteiler.

Ratinho schaute sich das Rezept ab. Und es funktionierte: Von Ende der 1970er bis Mitte der 1990er Jahre stand er zunächst als Stadtverordneter, danach als Kongressabgeordneter der PRN – der kurzlebigen Partei des 1992 von seinem Amt enthobenen Staatspräsidenten Fernando Collor de Mello – auf den Rednertribünen. Das Wahlmanöver war einfach: Den Rücken gestärkt vom Zuspruch unzähliger Zuhörer, ließ sich Ratinho auf die Liste einer Partei „fern aller Ideologien“ setzen, zog als „Held der Geknechteten“ in den Wahlkampf und eroberte seine politischen Mandate. Doch die Spielregeln der Politik und der Rednertribüne waren dem Alleinunterhalter bald zu eng, und so setzte er Mitte der 1990er Jahre seine Radioshow im Fernsehformat fort. Dazu diente ihm nun seine Popularität als Abgeordneter; der erfolgreichste Selfmademan im Unterhaltungsgeschäft, Senor Abravanel alias „Silvio Santos“, bot ihm ein Fenster im Privatsender SBT.

Der Gesetzgeber drückt beide Augen zu

Seit seinem TV-Debüt vor zwanzig Jahren ist aus Massa eine fette Maus geworden, seiner Unternehmensgruppe gehören der Flughafen-Kurzschlaf-Anbieter „Fast-Sleep“, die Kaffee-Handelsmarke „Café no Bule“, die Großfarm „Ubatuba“ und ein Fleisch verarbeitendes Unternehmen. Mit fünf Regionalsendern ist „TV Massa“ jedoch das entscheidende Glied in der Kette, die der Unternehmer dem ehemaligen Gouverneur Paulo Pimentel abgekauft hat. Der hatte Anfang der 1960er Jahre als mächtiger Großgrundbesitzer und Rinderzüchter zunächst die traditionelle Tageszeitung „O Estado do Paraná“ gekauft und dann die regionale Fernsehkette „TV Iguassu“ aufgebaut. Während der 21 Jahre andauernden Militärdiktatur, von 1964 bis 1985, agierten der Politiker Pimentel und der Medienmogul Pimentel vom Interessenkonflikt unberührt.

Mitarbeiter des brasilianischen Instituts für Kommunikationsforschung (EPCOM) haben 2010 ermittelt, daß 271 brasilianische Politiker entweder Anteilseigner privater Radio- und Fernsehsender sind oder Leitungsposten dort bekleiden – darunter 147 Bürgermeister, 48 Kongressabgeordnete, 20 Senatoren, 55 Landtagsabgeordnete und ein Gouverneur. Brasiliens Verfassung verbietet solche Verflechtungen. Die Zahl der verfassungsbrüchigen Medien beläuft sich auf 348 Radio- und Fernsehsender. Nicht einbezogen in die Erhebung sind jene Politiker, die durch Übertragung von Eigentumsurkunden an Strohmänner, zumeist Familienangehörige, die wahren Besitzverhältnisse verschleiern.

Der Gesetzgeber beobachtet das zwar, drückt aber seit Jahrzehnten beide Augen zu, insbesondere in Wahljahren, wenn die Regierungspartei die Stimmen ihrer Koalitionspartner und Alliierten braucht. Dann beeinflussen die wirtschaftlichen und politischen Interessen der „elektronischen Deputierten“ Programmangebot und Ausgewogenheit dieser Sender – so wird die Demokratie systematisch von oben ausgehöhlt.

Um die Verstöße gegen die Verfassung zu bekämpfen, ließ der Minister für Kommunikationswesen Paulo Bernardo 2011 im Internet eine Liste der Politiker veröffentlichen, die Rundfunksender besitzen. Es sei bekannt, so der Minister, daß so mancher Politiker Strohmänner benutze, um die vom Staat erlangte Konzession an Dritte weiterzuverkaufen. Die Vergabe von Sendekonzessionen ist in  Brasilien ein Monopol des Staates. Nach bisheriger Regelung konnte jedoch jemand mit einem Einkommen von 2000 Reales (rund 718 Euro) eine Vergabe im Wert von 1,5 Millionen Reales (rund 0,54 Millionen Euro) ergattern. „Damit ist jetzt Schluss!“, warnte Senator Eduardo Braga, der Vorsitzende der Kommission für Wissenschaft und Technologie, die mit der Regierung eine rigorose Novellierung ausarbeitet.

Bereits unter der Militärdiktatur war die politisch motivierte Frequenzverteilung an zivile Mitläufer Gang und Gäbe. General João Figueiredo vergab 1985 in den letzten zwei Monaten seiner Amtszeit 91 Lizenzen, von denen damals schon die großen TV-Netzwerke Globo, Bandeirantes und SBT profitierten. Bis zur demokratischen Verfassung von 1988 waren Sendelizenzen Entscheidungsmonopol der Exekutive, seitdem hat das Parlament das letzte Wort. Dort wandert ein Antrag durch fünf Instanzen, versickert in vier Arbeitsgruppen und landet schließlich im Senat mit weiteren fünf Expertenkommissionen. Eine Radiolizenz ist auf zehn, eine Fernsehkonzession auf 15 Jahre befristet, ihre Verlängerung muss neu beantragt werden.

„Wir haben zig Berlusconis“

Doch was zunächst als demokratischer Fortschritt verkauft wurde, nämlich die Mitbestimmung der Parlamentarier, hat sich als schöner Schein erwiesen. Ein Fünftel der Mitglieder der für die Vergabe zuständigen Kommission für Wissenschaft, Technologie, Kommunikation und Informatik ist Gesellschafter eines Medienunternehmens und nebenbei auch Mitglied einer konservativen Partei. „Wir haben zig Berlusconis“, erklärt der Journalist und Medienprofessor Eugênio Bucci im Jahresbericht 2012 von „Reporter ohne Grenzen“.

Kommunikationsminister Paulo Bernardo formulierte es drastischer: Es sei in Brasilien leichter, den Staatspräsidenten seines Amtes zu entheben als einem Politiker die Sendelizenz zu entziehen. Nicht nur Politikern, sondern vor allem den Wirtschaftsmoguln, müsste es treffender heißen. Stellt man sich das brasilianische Mediensystem als eine Pyramide vor, so bilden hunderte Politiker-Sender die Basis der landesweiten Verbreitungsplattform von vier zentralen Radio-und Fernsehnetzen, nämlich der Gruppen Globo, SBT, Record und Bandeirantes. Mit denen sind die regionalen und kommunalen Sender vertraglich verzahnt: Sie müssen als passive Empfänger 90 Prozent ihrer Sendezeit der landesweiten Programmausstrahlung der großen Sender opfern.

Die Struktur der elektronischen Medien in Lateinamerika wird oft mit dem System der Latifundien verglichen, das eine umgehende „Agrarreform des Äthers“ erforderlich mache. So besitzt die Gruppe Abril der Familie Civita 74 verschiedene Medien, beherrscht den Zeitschriftenmarkt und ist Alleininhaber des Fernsehanbieters Sky. Mit 69 Einzelmedien rangiert die Familie Marinho mit TV Globo an erster Stelle auf dem Radio-und Fernsehmarkt und nimmt mit der Tageszeitung „O Globo“ die Monopolstellung in Rio de Janeiro ein.

Ihr folgt die umsatzstarke Central Record de Comunicação mit 27 Sendern, mehrheitlich im Besitz des evangelikalen Bischofs Edir Macedo und seiner „Universalen Kirche vom Reiche Gottes“. In harten Disputen verteidigt Record ihren Rang gegen die Konkurrenz der SBT-Gruppe der Familie Silvio Santos. Mit 47 landesweiten TV-Sendern rangiert Grupo Bandeirantes der Familie Saad an fünfter Stelle. Ihr folgt das Familienunternehmen RBS der Sirotzkys, das TV Globo im südbrasilianischen Raum ausstrahlt und selbst 57 eigene Tageszeitungen, Radio und TV-Sender besitzt. Marktbeherrschende Tageszeitung in São Paulo und tonangebend in ganz Brasilien ist „Folha de S. Paulo“ im Besitz der Familie Frias.

Präsident Lula da Silva scheiterte an dem Kartell

Zum Gruppenbild gehören noch die Familien José Sarney in Maranhão und Fernando Collor in Alagoas. Als Großgrundbesitzer und Politiker in Personalunion – Sarney war 1985 Übergangspräsident der Militärs und jahrelang Senatsvorsitzender unter der Regierung Luis Inácio Lula da Silva – sind sie auch regionale Programmanbieter von TV Globo. Staatspräsident Lula da Silva stellte sich 2006 die brisante Aufgabe, dieses Medienkartell einem Presse-und Rundfunkgesetz zu unterwerfen. Doch er scheiterte am Widerstand der zehn Familien.

Vier Jahre später ergriff die argentinische Präsidentin Cristina Kirchner die Initiative für das erste Gesetz zur Regelung des Medienbetriebs in Lateinamerika, „Ley de Medios“ genannt. Damit sollen verbindliche Regeln für die Überwachung der Medienkonzentration wirksam werden, mit vergleichbaren Kriterien für die Einhaltung der Vielfalt, wie sie auch die deutsche Kommission zur Ermittlung der Konzentration im Medienbereich (KEK) zugrunde legt. Die marktbeherrschende argentinische Mediengruppe „Clarín“, an der die Goldman-Sachs-Bank mit 18 Prozent beteiligt ist, klagt gegen das Gesetz. Der Regierung von Rafael Correa in Ecuador hingegen ist mit breiter Beteiligung der Öffentlichkeit – Universitäten, Bürgerinitiativen und Gewerkschaften – und ohne nennenswerten Widerstand die Verabschiedung eines ähnlichen Rahmengesetzes gelungen.

Seitdem führt die interamerikanische Verleger-Vereinigung SIP einen Kreuzzug gegen vermeintliche „Staatszensur und Bedrohung der Unternehmensfreiheit“. Ganz anders denken die Vereinten Nationen darüber. Während seiner jüngsten Argentinien- und Brasilienbesuche im Oktober 2012 bescheinigte Frank La Rue, der UN-Sonderbevollmächtigte für Fragen der freien Meinungsäußerung, dem argentinischen Gesetz Modellcharakter für den gesamten Kontinent, weil es die Prinzipien der Vielfalt und des Pluralismus vollauf respektiere. Der UN-Kommission für Menschenrechte empfahl er das argentinische Mediengesetz als Vorbild.

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erschienen in Ausgabe 7 / 2013: Neues Wissen im Blick
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