„Indigene müssen nicht immer einer Meinung sein“

Ureinwohner, etwa im Amazonas-Regenwald, müssen gefragt werden, bevor in ihren Siedlungsgebieten eine Straße gebaut wird oder ein Bergwerk in Betrieb geht. So steht es zumindest in der UN-Erklärung über die Rechte indigener Völker. Hat das ihren Schutz verbessert? Und werden sie damit gegenüber anderen Bevölkerungsgruppen bevorzugt? Das bestreitet James Anaya, der zuständige UN-Sonderberichterstatter.

Sie sind Sonderbeauftragter der UN für die Rechte indigener Gruppen. Können Sie definieren, was indigene Menschen sind?
Nein, das mache ich nicht. Es ist die falsche Frage, um sich dem Thema zu nähern. Es geht mir nicht darum, irgendeine Gruppe gegenüber einer anderen abzugrenzen.

Aber für wen gilt denn Ihr Mandat?
Für Gruppen, die zum Beispiel von Land- oder Ressourcenkonflikten betroffen sind. Sie können diese Gruppen als Indigene bezeichnen oder auch nicht. Meine Frage ist: Sind sie seit Generationen in einer Region verwurzelt? Haben sie eine bestimmte Lebensform, die eng mit der Natur verbunden ist? Werden sie von staatlicher Seite benachteiligt? Ich betrachte solche Fälle beispielsweise in Lateinamerika oder Afrika. Was indigen ist oder nicht, ist eine abstrakte Debatte. Damit ist niemanden geholfen; nicht den marginalisierten Völker und nicht den Regierungen.

Indigene Bewegungen, zum Beispiel in Brasilien oder Bolivien, bekommen teilweise mehr internationale Aufmerksamkeit als andere Bevölkerungsgruppen mit ähnlichen Problemen.
Ich sehe das anders. Ich wünschte, es gäbe diese öffentliche Aufmerksamkeit. Im Gegenteil, die Probleme von indigenen Völkern werden kaum beachtet, etwa dass sie Gewalt oder Vertreibung ausgesetzt sind oder ihre Rechte aufgrund ökonomischer Interessen unterdrückt werden.

Immerhin haben sie einen Sonderbeauftragten, der sich für ihre Belange einsetzt.
Viel wichtiger ist, dass es eine UN-Erklärung gibt, die den Problemen der indigenen Völker mehr Aufmerksamkeit verschafft. Tatsache ist, dass bestimmten Gruppen ihre Menschenrechte vorenthalten wurden; Völker, die stark unter dem Kolonialismus zu leiden hatten, deren Territorium und Kultur nicht respektiert wurden und die heute noch die Folgen spüren. Wir sagen aber nicht, eine Gruppe erhält mehr Rechte als eine andere. Es geht darum, dass jeder das Recht hat, seine eigene Identität zu leben.

Nach der UN-Erklärung müssen indigene Völker bei allen Vorhaben, die ihren Lebensraum betreffen, etwa Bergbauprojekten, informiert werden und zustimmen. Wie sieht es in der Realität damit aus?
Da sieht es so aus: Investoren kommen zu den Menschen und sagen ihnen, wo sie unterschreiben sollen. Und wenn sie nicht unterschreiben, dann hindert die Investoren nichts, mit ihrem Projekt fortzufahren. Die meisten Projekte werden entwickelt, ohne die Einheimischen, die unmittelbar davon betroffen sind, einzubeziehen. Sie werden überhaupt nicht nach ihren Vorstellungen gefragt. Indigene Völker müssen über ihre Rechte aufgeklärt werden. Nur so können sie eine eigene Position beziehen und sich an Verhandlungen beteiligen.

In Bolivien streiten seit etwa einem Jahr Ureinwohner und der Staat über eine Straße, die im Tipnis-Nationalpark gebaut werden soll. Nicht alle Ureinwohner sind dagegen. Einige wollen eine Straße, um Zugang zu Ressourcen zu erhalten.
Ist das nicht normal, dass Menschen unterschiedlicher Meinung sind? Schauen Sie sich die Europäer an. Da prallen aufgrund der Eurokrise viele verschiedene Vorstellungen aufeinander. Die unterschiedlichen Positionen sollten allerdings berücksichtigt werden, damit Unstimmigkeiten gelöst werden können. Es gibt da diesen Generalverdacht: Wenn sie sich nicht einig sind, dann handelt es sich nicht wirklich um Indigene. Aber auch Indigene haben das Recht, nicht immer einer Meinung zu sein.

Wie kann verhindert werden, dass eine kleine Gruppe für alle Indigenen in einer Region spricht und über die Köpfe der anderen hinweg entscheidet?
Das hängt davon ab, was die Mitglieder der Gemeinschaft dazu sagen. Natürlich kann man über die Legitimität einiger Anführer streiten, doch das ist kein prinzipielles Problem der Indigenen. Wie anderswo sollten auch bei indigenen Gruppen demokratische Prozesse gefördert werden.

Bei uns wird das Leben von Indigenen manchmal sehr romantisch dargestellt. Die Einstellung ist weit verbreitet, Indigene wollten und sollten möglichst unberührt von äußeren Einflüssen leben. Behindert das ihre Weiterentwicklung?
Klar ist es schädlich, wenn Menschen von außerhalb Indigenen Chancen vorenthalten wollen. Indigene haben das Recht auf eine selbstbestimmte Entwicklung. Wenn sie sich dafür entscheiden, bestimmte Technologien zu nutzen, dann sollen sie das ruhig tun. Sie sollten auch ihre eigenen Ressourcen in ihrem Sinne nutzen können.

Das Gespräch führte Saara Wendisch.

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erschienen in Ausgabe 10 / 2012: Spuren des Terrors
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