Selbstmordanschläge – der mit einer Selbsttötung verbundene gezielte Einsatz von Menschen gegen einen vermeintlichen Feind, um politische Ziele durchzusetzen – sind eine moderne Methode, deren Wurzeln weit zurückreichen. Schon im ersten Jahrhundert nach Christus benutzten die jüdischen Sekten der Zeloten und Sikarier im römisch besetzten Judäa solche Aktionen als Taktik gegen ihre Feinde. Die Selbstmordanschläge im Nahen Osten lassen sich bis zu den frühen christlichen Kreuzzügen im 12. und 13. Jahrhundert zurückverfolgen; der islamische Bund der Assassinen (auch als Ismailiten-Nizariten bekannt) war an ähnlichen Aktivitäten beteiligt.
Im späten 19. Jahrhundert waren Selbstmordanschläge für Anarchisten und nationalistische Gruppen in Russland das bevorzugte Mittel, um den Feind zu terrorisieren und zu vernichten. Sie glaubten, diese Methode sei durch ihr Anliegen gerechtfertigt, und wollten damit auch neue Anhänger gewinnen. Auch die Japaner machten Selbstmordangriffe zur Strategie: Sie setzten im Zweiten Weltkrieg Kamikaze-Piloten ein, um amerikanische Streitkräfte im Pazifik anzugreifen. Während der Schlacht um Okinawa im April 1945 rammten ungefähr 2000 Kamikazeflieger ihre vollgetankten Kampfflugzeuge in mehr als 300 Schiffe und töteten 5000 Amerikaner in der teuersten Seeschlacht in der Geschichte der Vereinigten Staaten.
Autor
Riaz Hassan
ist Gastdozent am Institut für Südasienstudien an der Universität von Singapur. Er ist Autor der Bücher „Life as a Weapon: The Global Rise of Suicide Bombings“ (Routledge 2010) und „Suicide Bombings“ (Routledge 2011).Das moderne Zeitalter des Selbstmordterrorismus begann wohl im Dezember 1981 mit den Anschlägen auf die irakische Botschaft in Beirut. Knapp zwei Jahre später verübte die Hisbollah – eine militante schiitische Gruppe im Libanon, die zu einer wichtigen Kraft in der libanesischen Politik und Gesellschaft geworden ist – Selbstmordanschläge auf einen US-Stützpunkt in Beirut. Dabei wurden fast 300 amerikanische und französische Soldaten getötet. Das führte zum Abzug der multinationalen Friedenstruppe aus dem Libanon und machte Selbstmordattentate zu einem wirkungsvollen strategisch-politischen Instrument. Wegen ihrer tödlichen Konsequenzen und ihrer Medienwirksamkeit wurden Selbstmordanschläge auch zur bevorzugten Waffe der irakischen Widerstandsgruppen, die gegen die amerikanischen und anderen Besatzungstruppen in ihrem Land kämpften. Seit den Anschlägen vom 11. September 2001 gehören Selbstmordattentate zu den Topmeldungen der täglichen Nachrichten. Damals brachten 19 junge Muslime Passagierflugzeuge in ihre Gewalt und töteten sich selbst. Sie nahmen 2973 Menschen mit in das Flammeninferno.
Insgesamt machen Selbstmordattentate ungefähr vier Prozent aller Terroranschläge aus. Sie sind jedoch für fast ein Drittel der durch Terrorismus verursachten Todesfälle verantwortlich. Die Analyse von Informationen über 2297 Selbstmordanschläge zwischen 1981 und 2011, bei denen 30.000 Menschen in 36 Ländern getötet wurden, liefert vielfältige Ursachen für diese Akte der Selbstzerstörung. Sie müssen ergründet werden, damit solche Blutbäder ein Ende finden.
Bei den Motiven für einen Selbstmordanschlag spielt überraschenderweise Altruismus eine wichtige Rolle. Er lässt sich als Handlungsweise definieren, die den Handelnden etwas kostet und anderen Personen einen Vorteil bringt. Altruismus ist eine Grundbedingung für die Kooperation von Menschen, für die Organisation der Gesellschaft und ihren Zusammenhalt. Nach der Theorie des französischen Soziologen Emile Durkheim würden Selbstmordattentate unter die Kategorie altruistischer Suizide fallen: Beim altruistischen Selbstmord wird das eigene Leben für weniger wertvoll gehalten als die Ehre der Gruppe, die Religion oder andere kollektive Interessen. Aus soziologischer und ökonomischer Perspektive lassen sich Selbstmordanschläge als Altruismus in Form einer generationsübergreifenden Investition oder einer extremen Form des Sparens verstehen: Der Handelnde verzichtet auf den gegenwärtigen Genuss, um die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, dass seine Nachkommen von einem künftigen öffentlichen Gut profitieren.
Die Attentate dienen als Ventil für Verzweiflung, Verlust, Feindseligkeit und Ungerechtigkeit
Selbstmordattentate sind ferner eine Folge sogenannter asymmetrischer Konflikte zwischen dem Staat und nichtstaatlichen Akteuren. Dabei geht es um politische Ansprüche, die Besetzung von Gebieten und Enteignungen, und ausnahmslos sind sie mit staatlich sanktionierter Gewalt und repressiver Politik gegen die schwächeren nichtstaatlichen Parteien verbunden. Das führt zu Empörung und Aufruhr im Volk und zur Vertreibung zahlreicher Menschen, von denen viele als Flüchtlinge in provisorischen Lagern Schutz suchen müssen. Andere entscheidende Faktoren sind die Einkerkerung und entwürdigende Behandlung von inhaftierten Rebellen sowie die gegenseitige Entmenschlichung des „anderen“. Wo immer solche Konflikte entstehen oder bestehen, wird es zu solchen Anschlägen kommen. In den vergangenen 30 Jahren war das vor allem in muslimischen Ländern der Fall – das erklärt zumindest zum Teil, warum überwiegend dort Selbstmordattentate verübt werden. Eine Ausnahme bildet Sri Lanka.
Für das Selbstmordattentat – selten eine Strategie der ersten Wahl – entscheiden sich terroristische Organisationen, nachdem sie anhand von Beobachtungen und Erfahrungen eingeschätzt haben, wie wirksam die verschiedenen Strategien zur Erreichung ihrer politischen Ziele sind. Ausschlaggebend für die Entscheidung, sich an einem Selbstmordanschlag zu beteiligen, sind die soziale Identität der Attentäter und das Ausmaß, in dem sie von einem asymmetrischen Konflikt und seinen Kosten betroffen sind. Wichtig sind ferner ihr Kontakt zu Organisationen, die solche Anschläge finanzieren, und ihre Zugehörigkeit zu einer größeren Gemeinschaft, in der Opfer und Märtyrertod eine hohe symbolische Bedeutung haben. In Sri Lanka war den Selbstmordattentätern der „Black Tigers“ das Ansehen sehr wichtig, das sie in der Gemeinschaft durch ihre Taten erlangten. Bei den Bestattungsritualen wurden sie glorifiziert und als Heilige verehrt. Ein ewiges Licht auf den Grabsteinen der „Black Tigers“ sollte an ihr Opfer erinnern.
Religiöse oder nationalistische Einstellungen, die aus einer langen Zeit des kollektiven Leidens, der Demütigung und Machtlosigkeit herrühren und den Tod akzeptieren, ermöglichen es politischen Organisationen, den Menschen Selbstmordattentate als ein Ventil für ihre Gefühle der Verzweiflung, des Verlusts, der Feindseligkeit und Ungerechtigkeit anzubieten. Es zeigt sich jedoch auch, dass neben persönlichem und kollektivem Leiden, dem Motiv für solche Taten, bei den Selbstmordattentätern altruistische Gefühle und ein Sinn für Gerechtigkeit existieren. Der irakische Selbstmordbomber Marwan etwa betete, dass „keine unschuldigen Menschen bei seiner Mission getötet würden“.
Shafiqa, eine inhaftierte Palästinenserin, die einen Selbstmordanschlag verüben wollte, zündete ihren Sprengstoffgürtel nicht, als sie eine Frau mit einem Baby im Kinderwagen sah. „Und ich fragte mich: ‚Warum muss ich das der Frau und ihrem Kind antun?‘ … Etwas in mir sagte: ‚Nein, ich muss das nicht tun, ich werde damit nichts Gutes für Allah tun‘ … Ich dachte an die Menschen, die mich liebten, und an die unschuldigen Menschen auf der Straße … Es war ein sehr schwieriger Moment für mich und ich musste eine sehr schwere Entscheidung treffen“, erinnert sie sich.
Vor allem junge Menschen glauben, dass ein Selbstmordanschlag eine Heldentat ist
Der französische Filmemacher Pierre Rehov interviewte für seinen Film „Suicide Killers“ Palästinenser in israelischen Gefängnissen, die nach einem misslungenen Selbstmordattentat oder wegen Beihilfe zu solchen Anschlägen verhaftet worden waren. Jeder von ihnen versuchte, Rehov davon zu überzeugen, dass der Anschlag aus moralischen Gründen richtig gewesen sei. Laut Rehov „sind dies keine jungen Leute, die Böses tun wollen. Es sind junge Leute, die Gutes tun wollen …“ Junge Menschen, die bisher ein unbescholtenes Leben geführt haben, glauben, dass es eine Heldentat ist, einen Selbstmordanschlag zu verüben.
Die täglichen Erniedrigungen durch die israelischen Besatzer haben einen kollektiven Hass geschürt, der die jungen Menschen empfänglich macht für eine Indoktrination zum Märtyrertum. Philip Zimbardo, emeritierter Professor für Psychologie an der Stanford University, drückt es so aus: „Es ist weder geistlos noch sinnlos, sondern nur eine ganz andere Geisteshaltung mit einer anderen Empfindsamkeit, als wir sie normalerweise in den meisten Ländern bei jungen Menschen erleben.“
Die staatliche Seite reagiert in der Regel brutal auf Selbstmordattentate. Indem sie Angst und Chaos in den Alltag der Menschen bringen, untergraben sie die Autorität des Staates, der ein sicheres Leben und Wohlstand gewährleisten und die soziale Ordnung aufrechterhalten will. Unter solchen Bedingungen kann der Staat zu Recht Gewalt anwenden, um die Täter zu bestrafen oder Nachahmer abzuschrecken, damit Sicherheit und soziale Ordnung nicht durch weitere Anschläge gefährdet werden. Die staatlich sanktionierten Militäraktionen gegen die Palästinenser, gegen die Rebellen der Tamil Tigers in Sri Lanka, die irakischen Aufständischen und die Taliban in Pakistan und Afghanistan sind Beispiele dafür.
Bestrafungen sind jedoch nur wirksam, wenn sie nicht gegen die Normen der Gerechtigkeit verstoßen. Sanktionen, die von den betroffenen Gruppen als ungerecht, feindselig, egoistisch und rachsüchtig erlebt werden, wirken sich oft nachteilig aus. Statt Einsicht zu fördern, verstärken sie die Entschlossenheit der Bestraften, sich zu wehren. Maßnahmen zur Bekämpfung von Aufständen sollen für die Rebellen die Kosten des Aufstands in die Höhe treiben. Dabei werden Führer und Unterstützer, die Selbstmordattentate planen, eliminiert und die Möglichkeiten der Aufständischen zur Durchführung zukünftiger Anschläge zerstört. Einschränkungen der Bewegungsfreiheit, Sicherheitskontrollen und andere Verletzungen bürgerlicher Freiheiten gehören ebenfalls dazu. Es gibt jedoch immer mehr Hinweise darauf, dass solche harten Maßnahmen die radikale Opposition noch verstärken. Das geschieht zurzeit in Pakistan, Afghanistan und in den palästinensischen Gebieten und war auch in Sri Lanka und im Irak der Fall.
Aus dem Englischen von Elisabeth Steinweg-Fleckner.
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