Herr Keijzer, ist das 0,7-Prozent-Ziel noch wichtig?
Ja, das ist es. Aber es wird weniger wichtig werden. Zum einen verliert die Entwicklungshilfe an Gewicht im Vergleich zu anderen Geldflüssen wie den Rücküberweisungen von Migranten aus Entwicklungsländern oder Investitionen von Unternehmen. Außerdem wächst die sogenannte Entwicklungshilfe von aufstrebenden Ländern wie Brasilien oder China. Die verzichten darauf, ihre Zahlungen bei der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) als „öffentliche Entwicklungshilfe“ – ODA – zu verbuchen. Und schließlich, und vielleicht am wichtigsten, ist die Bevölkerung in den Entwicklungsländern seit den 1950er Jahren stark gewachsen – und damit auch die Grundlage für eigene Einnahmen.
Abgesehen vom Volumen der Hilfe: Ist denn das Konzept noch zeitgemäß, das sich hinter dem Kürzel ODA verbirgt?
Die Geberländer im Entwicklungsausschuss der OECD entscheiden im Konsens, was als ODA zählt und was nicht. Die Kriterien wurden deshalb immer nur sehr vorsichtig und langsam verändert. Das hat zur Folge, dass Geber davor zurückschrecken, bestimmte Finanzierungsinstrumente zu nutzen, weil sie den ODA-Kriterien nicht entsprechen – obwohl sie vielleicht entwicklungspolitisch sinnvoll wären. Einige Geberländer verzichten darauf, mittels Bürgschaften Investitionen in Entwicklungsländern zu fördern. Oder sie geben Institutionen, die Privatinvestitionen in Entwicklungsländern fördern, keine ODA-Mittel, weil sie nicht als ODA-Empfänger anerkannt sind. Meiner Ansicht nach sollte die entwicklungsfördernde Wirkung maßgeblich sein bei der Wahl der Instrumente und nicht die Frage, wie sich das auf die ODA-Statistik eines Landes auswirkt.
Nichtstaatliche Entwicklungsorganisationen warnen, wer ständig die Bedeutung anderer Geldflüsse hervorhebe und zudem die Definition für ODA ausdehnen wolle, der ermutige die Geberländer, ihre Hilfe zu reduzieren.
Ich kann diese Sorge nachvollziehen. Und ich warne auch davor, mögliche alternative Instrumente unkritisch zu übernehmen. Wir sollten nicht aufhören, soziale Dienste zu fördern, und stattdessen zu anderen Formen der Entwicklungszusammenarbeit wechseln, etwa zur Kooperation mit der Wirtschaft. Wir müssen herausfinden, auf welche Art sich Entwicklung am besten fördern lässt. Abgesehen davon gibt es aber ein grundsätzliches Problem mit dem 0,7-Prozent-Ziel: Es verleitet zu der Annahme, es gebe eine unmittelbare Beziehung zwischen erfolgreicher Entwicklung und dem Geldbetrag, den man dafür zur Verfügung stellt. Die Länder der OECD, aber auch wichtige Volkswirtschaften wie China oder Indien, beeinflussen die Entwicklungsländer auf noch ganz andere Weise. Das ist ja keine neue Erkenntnis: Das Center for Global Development in Washington legt seit 2003 jährlich einen Index über die „Entwicklungsfreundlichkeit“ der reichen Länder vor und bewertet deren Politik in Bereichen wie Außenhandel, Migration, Umweltschutz oder Sicherheit. Aber dieser Index hat nie das Gewicht des 0,7-Prozent-Ziels erhalten und wird letztlich nur von den Ländern wahrgenommen, die gut abschneiden.
Könnte denn ein solcher Index das 0,7-Prozent-Ziel ersetzen?
Nein, aber er könnte es ergänzen und die reichen Länder für ihre Politik zur Verantwortung ziehen. Ich lebe im niederländischen Maastricht, wo die Europäische Union vor zwanzig Jahren einen Vertrag geschlossen hat, der sie unter anderem dazu verpflichtet, ihre Politik entwicklungsfreundlicher zu machen. Aber in den Diskussionen seither ging es meistens um Formalitäten, etwa ob die EU-Mitglieder in ihren Außenministerien einen oder zwei Mitarbeiter für den Bereich Politikkohärenz abstellen sollten. Es fehlt an einer Absichtserklärung oder auch Vision der EU-Länder, wie entwicklungsfreundlich sie in Zukunft sein wollen.
Die meisten Länder der Europäischen Union haben das überschaubare 0,7-Prozent-Ziel selbst nach vierzig Jahren nicht erreicht, und Sie plädieren jetzt für einen viel anspruchsvolleren Maßstab für „Entwicklungsfreundlichkeit“. Erwarten Sie wirklich, dass das die Politik beeinflussen würde?
Ich stimme Ihnen zu, dass das anspruchsvoll ist. Andere würden es vielleicht sogar naiv nennen. In unserer Studie sagen wir aber, jetzt könnte der richtige Zeitpunkt sein, etwas anspruchsvoller zu werden, da die Debatte über die Entwicklungspolitik nach 2015 an Fahrt gewinnt. Diesen Sommer ist das High-Level Panel der Vereinten Nationen berufen worden, das die Überarbeitung oder Neuformulierung der Millenniumsziele für die Zeit nach 2015 anleiten soll. Ein vorbereitender Bericht der UN-Expertengruppe dazu betont die Notwendigkeit, auf allen Regierungsebenen Politik kohärenter zu gestalten. Vor diesem Hintergrund müssen die Entscheidungsträger Stellung beziehen, auf welche Ziele man sich verständigen könnte.
Es ist umstritten, welche Politik entwicklungsfördernd ist und welche nicht. Zum Beispiel: Sollten die armen Länder ihre Märkte öffnen oder nicht? Ist es angesichts solcher Kontroversen überhaupt möglich, dass sich die Regierungen auf einen offiziellen Index für entwicklungsfreundliche Politik einigen?
Manche Fragen sind umstrittener als andere. Es gibt auf internationaler Ebene aber Konsens über viele Punkte. Es ist unstrittig, dass das gegenwärtige System zum Schutz von geistigem Eigentum solchen Pharmaunternehmen nichts bringt, die Medikamente für Krankheiten entwickeln wollen, unter denen vor allem Menschen in armen Ländern leiden. Das ist ein klares Beispiel für eine Politik, die Entwicklung hemmt und deshalb geändert werden muss. Ja, über andere Fragen wird kontroverser diskutiert oder es fehlt einfach an Erkenntnissen, etwa dazu, wie sich die Förderung von Biotreibstoff auswirkt. Das ist ein grundsätzliches Problem: Es wird zu wenig investiert, um herauszufinden, wie die Politik der reichen Länder auf die Entwicklungsländer wirkt. Ich habe neulich auf einem Treffen bei der OECD argumentiert, wenn man in diese Frage nur fünf Prozent der Gelder investiert hätte, die für die Erforschung und die Evaluation von Budgethilfe ausgegeben wurden, dann wären wir heute wesentlich klüger. Die Fischerei- und die Landwirtschaftspolitik der EU gibt es seit Jahrzehnten, aber wenn es darum geht sie zu reformieren, stellt man fest, dass es kaum Daten dazu gibt, wie sie wirkt. Um Politik entwicklungsfreundlicher zu gestalten, muss man aber wissen, wie sie wirkt, um eine Grundlage für Reformen zu haben.
Das Gespräch führte Tillmann Elliesen.
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