Autor
Jean-François Bayart
ist Forschungsdirektor am Centre national de la recherche scientifique (CN RS) in Paris. Der Text ist zuerst auf Französisch in Sociétés politiques comparées Nr. 26 vom August 2010 erschienen, verfügbar auf der Internetseite des Fonds d‘Analyse des Sociétés Politiques (www.fasopo.org).Die Sahelzone ist einer jener wenig beachteten Grenzräume, die der Staat niemals vollständig kontrolliert hat – auch wenn diese Räume zu Staaten gehören und in politischem, geschäftlichem und kulturellem Bezug zu ihnen stehen. Darin ist der Sahelgürtel anderen Regionen vergleichbar, die von Handel, Transit und dem Rückzug anderswo nicht geduldeter Dissidenten geprägt sind: etwa der Seidenstraße in Zentralasien, Afghanistan, Kurdistan oder den Bergen und Wäldern in Südostasien. Dort übernahmen Gesellschaften – in der Regel von Nomaden – die Beförderung von Menschen, Gütern und Ideen und zogen Einnahmen aus Straßenräuberei, Piraterie, Krieg oder Schmuggel. Zu den benachbarten Zentralmächten unterhielten sie ambivalente Beziehungen in Form von Handel, Raub, Konfrontation, Bündnis oder Dissidenz.
In der Sahara und der Sahelzone bezeichnet man diese Nomaden als Tuareg, auch wenn einige von ihnen nicht zu dieser Berberisch sprechenden Gruppe gehören. Dem Kolonialstaat war es nie gelungen, sie zu unterwerfen, und dem Nationalstaat als seinem Nachfolger erging es nicht anders. Das zeigt die lange Reihe von Rebellionen in Mali, Niger und im Tschad seit der Unabhängigkeit. Allenfalls konnte der Staat mit politischen oder wirtschaftlichen Zugeständnissen für mehr oder weniger lange Zeiträume einen relativen Frieden sichern.
Man kann sich kaum vorstellen, wie eine ausländische Militärintervention mehr Erfolg haben sollte. Das Handlungsprinzip des kolonialen und nationalen Staates war dank seines politischen Apparates – auch wenn dieser immer unter grpßer Finanzknappheit und einem Mangel an Legitimität litt – viel wirksamer als bloße Repression. Nun wird die erste Folge der westlichen Einmischung die Aushöhlung der Staaten im Sahel-Raum sein, über deren „Schwäche“ man doch Krokodilstränen vergießt: Ihre Souveränität wird schwer belastet, ebenso ihre Glaubwürdigkeit gegenüber den eigenen Bürgern.
Zudem steuern Franzosen und Amerikaner geradewegs auf ein Scheitern zu. Die Macht ihrer Waffen und Geheimdienste sollte nicht zu Illusionen verleiten: Dass sie in solchen asymmetrischen Konflikten nicht genügt, macht der Präzedenzfall Somalia deutlich, von Afghanistan ganz zu schweigen. Einige kluge Köpfe verweisen nun auf das Beispiel der gegen die Guerilla gerichteten Milizen, die Algerien in den 1990er Jahren mobilisiert hat, um dem islamistischen Widerstand den Garaus zu bereiten. Doch wenn man das auch im Sahel tun will, möge man das klar sagen. Westafrika hat schließlich ebenfalls Erfahrung mit Milizen – in Sierra Leone und der Elfenbeinküste. Milizen zu mobilisieren würde hier dadurch erleichtert, dass die sogenannten Geheimgesellschaften der Jäger, die Dozo, bereit stehen. Die menschlichen Kosten eines solchen Unterfangens wagt man sich nicht einmal vorzustellen.
Die ausländische Intervention wird am Ende genau jene Bedrohung schaffen, die sie abwenden will, und dabei eine ganze Reihe perverser Wirkungen auslösen. Amerikaner und Franzosen spielen die einstweilen sehr begrenzte Gefahr des bewaffneten islamistischen Kampfes im Sahel hoch und riskieren damit, die Handelsbeziehungen und das taktische Bündnis zwischen den von Al-Qaida „konzessionierten“ algerischen Gruppen und den Tuareg unter dem Banner einer gemeinsamen Ideologie zu verfestigen. Sie bekämpfen den Islamismus arrogant von oben herab – so nehmen es zumindest die Muslime wahr – und adeln ihn damit als antiimperialistisch.
Das wird seine Wirkung auf die Verdammten in diesem Stück der Erde nicht verfehlen. Umso weniger, als die unverhältnismäßig große Gruppe der Jugendlichen, die nach Anerkennung und Würde suchen, kaum einen Ausweg hat: Die Strukturanpassungsprogramme seit 1980 haben die Zerschlagung der großen landwirtschaftlichen Wertschöpfungsketten (Baumwolle, Kakao, Kaffee) ausgelöst und den Ruin der Bildungs- und Gesundheitssysteme beschleunigt. Die Auswanderung, die von der wirtschaftlichen Liberalisierung und der sozialen Ungleichheit angetrieben wird, wird auf Betreiben Europas zwangsweise eingedämmt. Und für die Aufrechterhaltung der autoritären Herrschaft gibt man mehr oder weniger verschämt Rückendeckung. So sind seit zwanzig Jahren Bürgerkrieg und Kriminalität die beiden wichtigsten Mobilisierungsformen, die der Jugend bleiben – gepaart mit religiöser Erlösung. Mit anderen Worten: Indem man den Islamismus zum Hauptfeind des Westens sowie seiner Klienten, der einheimischen Staatsspitzen, erklärt und ihn unterdrückt, schafft man einen politischen Rahmen für die soziale Wut der Ausgeschlossenen – jener in Afrika selbst wie jener, die in der Europäischen Union dem Rassismus und den Ungerechtigkeiten gegenüber Zuwanderern ausgesetzt sind.
Im Sahel könnte sich dieses Katastrophenszenario verbinden mit der Politisierung der großen verdrängten Frage: der Erinnerung an die Sklaverei. Sie ist in den alltäglichen sozialen Beziehungen gegenwärtig, wurde aber im nationalen Unabhängigkeitskampf – ausgenommen in Guinea unter Sékou Touré – im Namen der antikolonialen Einheit verdeckt. Nach Angaben der Staaten oder ihrer Provinzen sind 20 bis 50 Prozent der Bevölkerung Nachfahren von Sklaven. Der Islam nun ist entgegen dem im Westen vorherrschenden Vorurteil eine universalistische Religion, er will im sozialen Status begründete Grenzen mit der Gemeinschaft der Gläubigen überschreiten. Historisch hat er im Senegal über die Vermittlung von Bruderschaften mehr zur Emanzipation der Sklaven beigetragen als die französische Verwaltung. Der Islam kann heute ideologische Mittel bereitstellen, um die Erblast der Sklaverei anzugehen. Das haben im Norden Nigerias populistische politische Parteien oder mahdistische Bewegungen gezeigt. Eine Möglichkeit unter anderen ist, dass in den kommenden Jahren der radikale Islamismus die Frage der Sklaverei aufgreift; es wäre unklug, dem Vorschub zu leisten.
Die afrikanischen Führer werden nicht zögern, die Fehleinschätzung auf Seiten des Westens auszunutzen. Ihnen verschafft die Anti-Terror-Politik eine neue Einnahmemöglichkeit (nach dem Antikommunismus, der wirtschaftlichen Liberalisierung und, schamloserweise, der „Demokratie“), mit der sie den Fortbestand ihrer autoritären Regime legitimieren und finanzieren, wenn nicht gar wie im Fall Äthiopiens ihre regionale Vormachtstellung sichern können. Umgekehrt wird der Erhalt autoritärer Herrschaft und der damit verbundenen sozialen Ungerechtigkeiten sich als beste Rekrutierungshilfe für den islamischen Radikalismus erweisen. Dieser wird übrigens sein christliches Gegenüber finden: Den Fundamentalismus der Pfingstler, der seit drei Jahrzehnten einen Aufstieg erlebt und seit zehn Jahren zur religiösen Destabilisierung in Nigeria und zur politischen Polarisierung in der Elfenbeinküste beiträgt.
Das militärische Engagement Frankreichs und der USA im Sahel spielt sich zudem in einem Kontext ab, der es besonders gefährlich macht. Die Küsten Guineas, des Senegals und Mauretaniens haben sich zu Transitrouten für zwei Arten des Handels entwickelt, den die westlichen Staaten kriminalisiert haben: den mit Migranten in Richtung Europa und den mit Drogen aus Lateinamerika. Die Schmuggelrouten in der Sahara sind die Verlängerung dieser Handelswege an der Küste. Tuareg und bewaffnete islamistische Gruppen sind nicht die einzigen, die ihren Teil des Tributs einnehmen. Zwischenfälle haben ans Licht gebracht, dass Politiker in Guinea-Bissau, Guinea, Libyen und sogar dem Senegal darin verstrickt sind – ganz abgesehen davon, dass die Schieber Komplizen in den ausgebluteten Verwaltungen haben. Allem Anschein nach sind kriminelle Organisationen im Begriff, sich an den Schnittstellen von lateinamerikanischen und italienischen Mafia-Netzwerken, den Staatsgewalten und den Gesellschaften im westafrikanischen Raum zu konstituieren. Für sie stellt der Antiterror-Kampf einen wahren Glücksfall dar: Er ergänzt ihre Einnahmen, die sie dem Kampf gegen die Drogen und gegen die Migration verdanken.
Ist es zu viel verlangt, dass unsere Regierungen die Konsequenzen ihrer Entscheidung im Sahel bis zu Ende bedenken? Innerhalb einiger Jahrzehnte haben sie profitable Quellen globaler Renteneinnahmen geschaffen, indem sie drei Dinge international kriminalisiert haben: den Drogenhandel, das Einschleusen von Migranten, die zu einem Dasein im Untergrund verurteilt sind, sowie den Machtanspruch der Islamisten. In allen drei Fällen begründet das Verbot den wirtschaftlichen oder politischen Wert und nutzt jenen Gruppen, die man zu bekämpfen vorgibt: Drogenhändlern, Menschenschmugglern und Dschihadisten.
Wenn diese absurde Strategie nicht schnell und gründlich revidiert wird, wird Westafrika in einer Konstellation versinken, die nicht zu kontrollieren ist – halbwegs zwischen dem, was man in Mexiko, Kolumbien und Süditalien beobachten kann, aber auch in gewisser Weise vergleichbar mit Afghanistan. Es muss Schluss damit sein, den Wert der Einsätze in diesem Spiel immer zu erhöhen. Man muss die Sorge um die Folgen der Drogenabhängigkeit für die öffentliche Gesundheit vom Verbot des Drogenkonsums trennen und legale Möglichkeiten der Einwanderung wiederherstellen. Und mit dem politischen Islam muss man sich politisch auseinandersetzen: Man muss ihm jene legale Vertretung auf der politischen Bühne zugestehen, die er anstrebt, um den gewalttätigen und absolut minoritären Splittergruppen entgegenzuwirken, die den politischen Islam für sich beanspruchen.
Aus dem Französischen von Bernd Stößel.
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