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Die Diskussionen bei VENRO symbolisieren, wie es um das Thema Behinderung in der deutschen Entwicklungszusammenarbeit bestellt ist: Es steht auf der Tagesordnung, kaum jemand bestreitet heute noch, dass es wichtig ist. Aber bislang hat außer solchen Spezialorganisationen wie der Christoffel-Blindenmission (CBM) oder Handicap International kaum eine Hilfsorganisation ein Konzept für die Berücksichtigung behinderter Menschen in der Projektarbeit – ganz anders beispielsweise als zum Thema Frauen und dem Querschnittsthema Geschlechtergerechtigkeit.
Dabei kommt die Entwicklungshilfe an Menschen mit Behinderung eigentlich gar nicht vorbei. Weltweit gelten laut der Weltgesundheitsorganisation (WHO) rund 650 Millionen Frauen, Männer und Kinder als geistig oder körperlich behindert, rund zehn Prozent der Weltbevölkerung. Die Datenlage ist schlecht, aber Experten gehen davon aus, dass der Anteil in armen Länder eher über diesem Durchschnitt liegt. Länderstudien der Weltbank etwa zu Indien und Uganda haben gezeigt, dass Behinderte häufiger in Armut leben als andere. In Afrika besucht laut der UNESCO nur jedes zehnte behinderte Kind eine Grundschule, während im Durchschnitt heute drei von vier Kindern auf dem Kontinent eingeschult sind. „Eine effiziente Entwicklungszusammenarbeit ist ohne die Berücksichtigung von Menschen mit Behinderung gar nicht möglich“, sagt Julia Steinfelder, die bei der CBM im Bereich anwaltschaftliche Arbeit (Advocacy) tätig ist.
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Auch die UN-Konvention über die Rechte von Behinderten aus dem Jahr 2006 verlangt von den Unterzeichnern eine Entwicklungszusammenarbeit, die behinderte Menschen einschließt. Die Konvention betrifft zwar in erster Linie die Einbindung und Teilhabe von Behinderten im eigenen Land. Sie macht aber zugleich als erster internationaler Menschenrechtspakt überhaupt Vorgaben für die internationale Zusammenarbeit und die Entwicklungshilfe. Deutschland hat die Konvention 2009 ratifiziert; die Bundesregierung arbeitet seit vergangenem Jahr an einem „Nationalen Aktionsplan“ zu ihrer Umsetzung, der im Frühjahr fertig sein soll.
Ursprünglich wollte die Bundesregierung darin den Bereich „Internationale Zusammenarbeit“ ignorieren; zu einem ersten Arbeitstreffen vor einem Jahr waren entwicklungspolitische Organisationen nicht eingeladen worden. Beharrliche Lobbyarbeit der CBM, des Vereins Behinderung und Entwicklung (bezev) und anderer Entwicklungsorganisationen, die mit behinderten Menschen arbeiten, bewirkte aber ein Umdenken beim federführend zuständigen Ministerium für Arbeit und Soziales. Offenbar soll die internationale Zusammenarbeit nun den gleichen Stellenwert erhalten wie innenpolitische Themen, etwa Bildung oder Gesundheit.
In der entwicklungspolitischen Szene herrscht Konsens darüber, dass die Konvention dem Thema Behinderung deutlichen Schub gegeben hat – besonders in der staatlichen Entwicklungszusammenarbeit. Projekte für Menschen mit Behinderung als Zielgruppe gibt es schon länger. Im Jahr 2009 hat das Bundesentwicklungsministerium (BMZ) nach eigenen Angaben insgesamt 22 Vorhaben in 17 Ländern gefördert, beispielsweise zur Integration von behinderten Männern und Frauen in den Arbeitsmarkt in Usbekistan oder zur frühkindlichen Bildung in Chile. Doch seit die UN-Konvention in Kraft ist, befasst das Ministerium sich verstärkt mit der Frage, wie es über solche Einzelprojekte hinaus die Interessen und den Bedarf von Behinderten in der Entwicklungszusammenarbeit generell berücksichtigen kann.
Vor wenigen Jahren sei die VENRO-Arbeitsgruppe Behinderung und Entwicklung mit diesem Ansinnen bei der BMZ-Spitze noch abgeblitzt, sagt Gabriele Weigt vom Verein Behinderung und Entwicklungszusammenarbeit (BEZEV), die Sprecherin der Arbeitsgruppe ist. Heute hingegen arbeitet das Ministerium am Nationalen Aktionsplan zur Umsetzung der UN-Konvention mit, veranstaltet Runde Tische zum Thema und hat vor einem Jahr ein so genanntes Sektorvorhaben bei der Deutschen Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ – jetzt GIZ) eingerichtet, das Vorschläge macht, wie eine „inklusive“ Entwicklungszusammenarbeit aussehen kann. Im November kündigte der zuständige BMZ-Referatsleiter an, das Ministerium werde 2011 eine entsprechende Strategie ausarbeiten.
Überzeugungsarbeit ist aber nicht nur gegenüber staatlichen Stellen nötig, sondern auch gegenüber nichtstaatlichen Hilfsorganisationen (NGOs). Wie in der staatlichen Entwicklungszusammenarbeit gibt es auch bei den entwicklungspolitischen NGOs etliche Projekte, die sich an Menschen mit Behinderung richten, etwa an Kriegsversehrte in Ländern wie Sierra Leone oder Angola. Doch mit „inklusiver Entwicklung“ haben sich die meisten bislang nur oberflächlich befasst. Im vergangenen Jahr hat die VENRO-Arbeitsgemeinschaft ein Handbuch dazu herausgebracht, das auf einem Workshop vorgestellt werden sollte. Die Veranstaltung musste abgesagt werden, weil nicht genug Anmeldungen kamen. Für Gabriele Weigt ist das ein deutliches Zeichen, dass das Interesse an dem Thema bei den NGOs insgesamt nicht allzu groß ist. „Es ist noch ein weiter Weg, bis Behinderung ein Querschnittsthema ist so wie Geschlechtergerechtigkeit“,sagt sie.
Beim Stichwort „Querschnittsthema“ zucken ohnehin viele zurück – bei den NGOs wie auch bei staatlichen Einrichtungen. „Die Konkurrenz zwischen verschiedenen Themen ist groß“, sagt Stefanie Ruff, die im BMZ-Referat „Armutsbekämpfung; Soziale Sicherung“ für das Thema Behinderung zuständig ist. Es gehe darum, die Mitarbeiter für eine inklusive Entwicklungszusammenarbeit zu sensibilisieren und die vorhandenen Instrumente entsprechend anzupassen. Wenn man konsequent von den Menschenrechten und der Armutsbekämpfung ausgehe, so Ruff, dann gerieten Menschen mit Behinderung ganz von selbst in den Fokus.
Auch bei der Kindernothilfe (KNH) sieht man Behinderung nicht als neues Querschnittsthema. Und doch gilt das Hilfswerk in Duisburg unter den NGOs, die nicht auf behinderte Menschen spezialisiert sind, als Vorreiter in Sachen „inklusive Entwicklung“. Projektanträge von Partnerorganisationen in Entwicklungsländern werden danach durchleuchtet, ob Behinderte berücksichtigt werden. „Das Thema durchzieht bei uns wie ein Sauerteig mehr und mehr die Projektentwicklung“, sagt Guido Falkenberg, der bei der KNH für Indien verantwortlich ist. Indien hat unter allen KNH-Partnerländern die meisten Einrichtungen für behinderte Menschen. Das hat Falkenberg dazu gebracht, sich intensiver mit dem Thema zu befassen und es in seiner Organisation voranzubringen. Wie Stefanie Ruff vom Entwicklungsministerium sieht er die Ausrichtung der Entwicklungszusammenarbeit an einem rechtsbasierten Ansatz als besten Weg dahin: „Das schließt behinderte Menschen automatisch ein.“
Die Kindernothilfe ist eine der wenigen Hilfsorganisationen, in denen das Thema Behinderung institutionell verankert ist: Vor einem Jahr hat der Vorstand eine vierköpfige Arbeitsgruppe für inklusive Entwicklung eingerichtet, die in allen Abteilungen vertreten ist, die die Arbeit der KNH konzeptionell weiterentwickeln. Ausschlaggebend war dafür unter anderem die UN-Behindertenrechtskonvention. Die gilt streng genommen zwar nur für Staaten, aber nach Ansicht von Falkenberg kommen auch die nichtstaatlichen Entwicklungsorganisationen nicht daran vorbei, ihre Anforderungen zu erfüllen – erst recht, wenn sie auch in Zukunft Fördermittel vom BMZ erhalten wollen. „Der Zug ist unumkehrbar“, sagt Falkenberg.
Wie reagieren die Partner der Kindernothilfe auf das Erfordernis, in ihren Projektanträgen Menschen mit Behinderung zu berücksichtigen? „Grundsätzlich nicht ablehnend, sondern eher verunsichert“, sagt Falkenberg. Das lege sich aber, wenn man den Partnern Beratung anbiete, wie Projekte inklusiv gestaltet werden können. Dabei arbeitet die Kindernothilfe auch mit spezialisierten Organisationen wie der Christoffel-Blindenmission zusammen. Als Beispiel nennt Falkenberg ein Dorfentwicklungsprojekt in Indien. Die behinderten Frauen in diesem Dorf seien ermuntert worden, aus ihren Reihen Abgeordnete zu benennen, die ihre Interessen vertreten. In den Gremien der Selbsthilfegruppen für Frauen seien entsprechend Plätze für Frauen mit Behinderung reserviert worden.
In den armen Ländern sind die Bedingungen für „inklusive Entwicklung“ unterschiedlich. In Ruanda zum Beispiel gehen nicht einmal zwei Prozent der blinden Kinder in die Schule oder machen eine Berufsausbildung, in Kenia hingegen dürften es dreißig Prozent sein, sagt Norbert Kather, der in beiden Ländern als Entwicklungshelfer gearbeitet hat. Oft werden Behinderte einfach unterschätzt – was in den reichen Ländern nicht anders ist, wie Kather am eigenen Leib erfahren hat: Der 53-jährige Sozialarbeiter leidet seit der Geburt an grünem Star und ist seit sieben Jahren blind. Bei deutschen Hilfsorganisationen hatte er mit seinen Bewerbungen seiner Ansicht nach deshalb keine Chance. „Ich kann die Unsicherheit ja verstehen“, sagt Kather, „aber ich hätte mir doch gewünscht, dass mehr auf meine Bewerbung eingegangen worden wäre, um Möglichkeiten und Grenzen auszuloten. Anstatt gleich davon auszugehen, dass es nicht geht.“ Nach Afrika ist Kather schließlich mit einem britischen Freiwilligendienst gegangen.
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