Latsamy Voralath aus dem ostlaotischen Dorf Muang Xerong nahe der vietnamesischen Grenze war gerade 14, als ihm explodierende Streumunition den rechten Unterarm abris. Seitdem ist er behindert. Bei der Reisernte kann er die Familie nicht mehr unterstützen. Da hilft auch die Prothese nichts, die er vor drei Jahren dank Unterstützung der Behindertenhilfsorganisation Handicap International erhalten hat. Abends legt er sie ohnehin lieber ab. „Sie juckt“, sagt er. „Essen kann ich auch mit der linken Hand.”
Autor
Andreas Zumach
ist Journalist und Publizist in Genf.„Nie vergessen” wird der heute 20-Jährige den Unfall vom 20. September 2004, der sein Leben so dramatisch verändert hat. An diesem Tag sammelte er zusammen mit einigen Freunden im Wald und auf den Feldern herumliegende Metallteile. Der örtliche Schrotthändler bezahlte ihnen dafür gutes Geld.„Wir hatten ihn immer wieder davor gewarnt, die gefährlichen Metallstücke anzufassen”, betont Latsamys Vater. Sein Sohn bestätigt das. Doch alle Warnungen waren damals vergeblich. Heute klärt Latsamy als „local advocat” von Handicap International in den Dörfern der ostlaotischen Provinz Savannaketh selbst aktiv auf über die Gefahren der Streumunition, der heimtückischen Hinterlassenschaft des Vietnamkrieges.
Zwischen 1964 und 1973 warf die US-Luftwaffe nach Unterlagen des Pentagon insgesamt mindestens zwei Millionen Tonnen Bomben auf Laos ab –darunter 1,38 Millionen Tonnen Streubomben sowie 0,7 Millionen Tonnen gewöhnliche Bomben mit Gewichten zwischen 500 und 4000 Pfund. Auf jeden der damals vier Millionen Einwohner von Laos kam eine Bombenlast von einer halben Tonne. In den am heftigsten attackierten Regionen entlang des Ho-Chi-Minh-Pfades im Osten und Süden des Landes, nahe der Grenzen zu Vietnam und Kambodscha, fielen pro Quadratkilometer rund 12 Tonnen Bomben. Über den Ho-Chi-Minh-Pfad lief der Nachschub für die nordvietnamesischen Streitkräfte des Vietcong, die damaligen Kriegsgegner der USA. Die von der US-Luftwaffe abgeworfenen Streubomben verteilten rund 270 Millionen Stück tennisballgroßer Streumunition („Bomblets“ oder in Laos „Bombies“ genannt) auf das Abwurfgebiet. Davon sind rund 90 Millionen bis heute nicht beseitigt und potenziell weiter gefährlich. Die von der US-Luftwaffe am häufigsten eingesetzte Streubombe vom Typ CBU-26 enthielt 670 solcher Bomblets, von denen wiederum jede nach Aufprall und Explosion 300 scharfe Metallsplitter verschoss. Kein anderes Land der Erde ist auch nur annähernd so stark mit Streumunition verseucht wie Laos. Zwischen 1964 und 2008 wurden hier über 50.000 Fälle registriert, in denen Menschen von explodierender Streumunition getötet oder verstümmelt wurden.
Damit ist Streumunition in Laos mit großem Abstand die wichtigste Ursache für körperliche Behinderungen. 98 Prozent aller Opfer sind Zivilisten – die große Mehrheit davon Frauen und Kinder. Jährlich kommen rund 300 Opfer hinzu. Und dies trotz all der intensiven Aufklärungsbemühungen, die in Laos in sehr enger Kooperation zwischen der Regierung in Vientiane sowie nationalen und internationalen nichtstaatlichen Organisationen (NGO) betrieben werden. Das gilt auch für die Bemühungen um die medizinische Versorgung und Rehabilitation von überlebenden Streumunitionsopfern und anderen körperlich Behinderten, ihre Ausbildung und ihre Wiedereingliederung.
Die finanziellen Mittel, die für diese Zwecke zur Verfügung stehen, sind allerdings sehr beschränkt. Laos ist eines der ärmsten Länder der Erde. Das Bruttonationaleinkommen lag 2009 bei 760 US-Dollar pro Einwohner (in Deutschland sind es 42.410 US-Dollar). Daher konzentrieren sich die Einrichtungen zur medizinischen Versorgung und Rehabilitation vor allem auf die Hauptstadt sowie vier der zwanzig Provinzhauptstädte. Die wichtigste Einrichtung ist das am Stadtrand von Vientiane gelegene gemeinnützige Unternehmen „Cooperative Orthotic and Prosthetic Enterprise” (COPE).
Hier erhalten alle Patienten kostenlose Rehabilitationstherapien sowie Hilfsmittel wie Prothesen, Orthesen oder Rollstühle. Handicap International und andere NGOs sorgen dafür, dass Behinderte aus den ländlichen Regionen nach Vientiane reisen und von COPE versorgt werden können. Auch Latsamy Voralath aus dem rund 400 Kilometer entfernten Muang Xerong erhielt hier seinen ersten künstlichen Unterarm. Demnächst soll ihm eine neue Prothese angepasst werden, die dann hoffentlich nicht mehr juckt.
Darüber hinaus organisieren die NGOs in Zusammenarbeit mit der „Vereinigung behinderter Menschen in Laos” (LDPA) Rehabilitations- und Wiedereingliederungsprogramme in Dörfern und ländlichen Regionen. Ziel ist es, die Kommunen über die Rechte von behinderten Menschen aufzuklären, für alle Behinderten den Zugang zu körperlichen Rehabilitationsmaßnahmen sicherzustellen sowie Arbeitsplätze für sie zu finden. Und trotz aller Kenntnisse über die verheerende Wirkung der weit verbreiteten Streumunition gilt es doch auch immer wieder, Vorurteile gegenüber Behinderten abzubauen. Latsamy Voralath jedenfalls empfindet das Leben in seinem Land „nicht als angenehm”. „Manchmal schauen die Leute auf mich herab und lachen über mich”, klagt er. Und er befürchtet, dass sein großer Wunsch nach einer „netten Frau” wegen seiner Behinderung unerfüllt bleiben könnte.
Aufgrund der Streumunition sind noch immer rund 37 Prozent der Landesfläche von Laos nicht gefahrlos zugänglich. Reisanbau, Viehwirtschaft, Fischfang oder das Sammeln von Pflanzen in den Wäldern sind in diesen Regionen nicht möglich. Handicap International hat deshalb 2008 in 30 Dörfern der Provinz Savannaketh ein Hausgarten-Projekt gestartet, das inzwischen mehr als 300 Familien eine gesunde Ernährung mit bislang in Laos nicht bekanntem Obst und Gemüse ermöglicht. Mit dem Verkauf der Nahrungsmittel, die sie nicht selbst konsumieren, erschließt sich den Familien eine zusätzliche Einkommensquelle.
Streumunition und Antipersonenminen sind die heimtückischsten Mord- und Verstümmelungsinstrumente, die die Rüstungsindustrie bislang entwickelt hat
Voraussetzung dafür, dass die Zahl der behinderten Menschen in Laos nicht noch weiter anwächst, ist die Räumung möglichst sämtlicher Streumunition. Im Rahmen der im August 2010 in Kraft getretenen Konvention zum Verbot von Streubomben hat sich Laos verpflichtet, dieses ehrgeizige Ziel innerhalb von maximal acht Jahren zu erreichen. Und auch nur dann wird das Land in der Lage sein, seine Reisproduktion in dem Ausmaß zu steigern, dass es die eigene Bevölkerung weitgehend unabhängig von Nahrungsmittelimporten ernähren kann.
Bei der Räumung und der sicheren Zerstörung der noch fast 90 Millionen Stück Streumunition ist das oberste Prinzip die Hilfe zur Selbsthilfe durch das Training der Einheimischen. Eine von ihnen ist Khanthang Phasavuth. Nach der Ausbildung bei Handicap International hat die 22-Jährige die Überwindung der Angst vor der heimtückischen Streumunition zu ihrem Brotberuf gemacht. Zusammen mit neun Kolleginnen säubert sie am Rande des ärmlichen Dorfes Keng Lin eine rund drei Fußballfelder große, erheblich mit Streumunition verseuchte Fläche, die künftig als Ackerland dienen soll. „Das mache ich für mein Land und meine künftigen Kinder“, sagt Khanthang Phasavuth. Mit dem Monatslohn von umgerechnet 200 US-Dollar ist sie „sehr zufrieden“.
Zentimeter für Zentimeter tastet die junge Frau den Boden mit einer großen Metallsonde ab. Täglich werden auf diese Weise im Durchschnitt 120 Quadratmeter Boden behandelt. Immer wieder wird die systematische Räumungsarbeit allerdings verzögert, weil Khanthang Phasavuth und ihr Team häufig Notrufe aus umliegenden Dörfern erhalten, deren Bewohner irgendwo im Wald oder auf ihren Feldern auf nicht explodierte Munition gestoßen sind. Streumunition wurde und wird seit Anfang der 1950er Jahre in 33 Kriegen und Bürgerkriegen eingesetzt. Neben Laos leben in 24 weiteren Ländern Menschen, die nach Kriegsende von explodierender Streumunition verstümmelt und in der Folge zu Behinderten wurden. Die Gesamtzahl aller bisherigen Opfer liegt bei über 100.000. Derzeit bedrohen weltweit noch rund 440 Millionen Stück Streumunition das Leben beziehungsweise den Lebensraum von rund 400 Millionen Menschen. Nach Laos am meisten betroffen sind der Libanon, der Irak, Afghanistan und das Kosovo.
Hinzu kommen Menschen, die von Antipersonenminen getötet und verstümmelt wurden – vor allem in Afghanistan, in Bosnien, Kroatien und im Kosovo. Um den zahlreichen behinderten Opfern von Antipersonenminen und Streumunition auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawiens zu helfen, hat der Nürnberger Verein Human Study in den vergangenen Jahren Studenten aus Serbien, Bosnien, Kroatien, Mazedonien und dem Kosovo die gemeinsame Ausbildung an der Meisterschule für Orthopädietechnik in München ermöglicht.
Streumunition und Antipersonenminen sind die heimtückischsten Mord- und Verstümmelungsinstrumente, die die Rüstungsindustrie bislang entwickelt hat. Nur ein weltweit gültiges, von allen Staaten ratifiziertes Verbot kann sicherstellen, dass künftig niemand mehr von derartigen Waffen verstümmelt wird. Die beiden internationalen Verbotskonventionen für Streumunition von 2008 und für Antipersonenminen von 1997 sind ein großer Schritt auf dem Weg zu diesem Ziel. Eine breite internationale Koalition nichtstaatlicher Organisationen hat diese Erfolge gegen den Willen und zum Teil gegen weiterhin anhaltenden Widerstand mächtiger Staaten wie der USA, Russlands, Chinas und Indiens durchgesetzt.
Lobbyorganisationen für Behindertenrechte ist auch zu verdanken, dass die beiden Konventionen erstmals in der Geschichte von Rüstungskontroll-und Abrüstungsverträgen über die Verbote der Waffen hinaus weitgehende Regelungen zur Hilfe für die Opfer enthalten. Die inzwischen 111 Vertragsstaaten der Streubomben-Konvention verpflichteten sich auf ihrer Konferenz Anfang Dezember 2010 in Laos in einem 66-Punkte-Aktionsplan, diese und andere Bestimmungen des Abkommens beschleunigt umzusetzen. Ob die Versprechen gehalten werden, wird sich auf der nächsten Konferenz Ende 2011 im Libanon überprüfen lassen.
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