Autorin
Gabriele Weigt
ist Geschäftsführerin des Vereins Behinderung und Entwicklungszusammenarbeit (bezev e.V.) in Essen.Wie wichtig aussagekräftigere Zahlen sind, wird daran deutlich, dass die Prävalenz von Land zu Land sehr unterschiedlich ist. Untersuchungen in 55 Ländern haben eine Bandbreite von 0,2 bis 21 Prozent der Bevölkerung ergeben, die eine Behinderung haben. Auch andere Studien zeigen sehr verschiedene Prävalenzen, zum Teil sogar in einem Land. Das liegt zum Teil an unterschiedlichen Erhebungsmethoden und den verwendeten Definitionen von Behinderung. Zum Beispiel zählen in Ecuador – wie auch in anderen Ländern – Kinder mit Lernbeeinträchtigungen nicht zur Gruppe der Kinder mit Behinderungen, während diese Kinder in Deutschland dazu gehören und hier mit 45 Prozent die größte Gruppe darstellen. Das Verständnis von Behinderung ist interkulturell unterschiedlich; das betrifft vor allem die Ebene der gesellschaftlichen Teilhabe.
Eine Behinderung entsteht erst, wenn ein Mensch mit einer Beeinträchtigung nicht die gleichen gesellschaftlichen Teilhabechancen hat wie andere (siehe den Beitrag auf Seite 12). Das bestimmende Kriterium sind demnach die Umgebungsbedingungen, die Teilhabe ermöglichen oder verwehren. Menschen, die intellektuell oder nur leicht körperlich beeinträchtigt sind, tauchen vielleicht gar nicht in den Statistiken über Behinderung auf. Viele Beeinträchtigungen – dazu gehören körperliche, Sinnesbeeinträchtigungen (Blindheit, Sehbeeinträchtigung, Gehörlosigkeit, Schwerhörigkeit, Taubblindheit), Sprachbeeinträchtigung, seelische Beeinträchtigung sowie intellektuelle Beeinträchtigung und Lernbeeinträchtigung – sind jedoch vermeidbar. Um ihre Ursachen geht es hier.
Aus vielen Studien ist bekannt, dass in den sich entwickelnden Ländern rund die Hälfte der Beeinträchtigungen als Folge der Armut entstehen. Als weitere spezifische Faktoren kommen direkte und langfristige Folgen von Kriegen hinzu sowie die Auswirkungen von Naturkatastrophen, Unfälle und die Auswirkungen des Klimawandels. Darin liegen auch die Hauptunterschiede zur Situation in den reichen Ländern. In Deutschland sind Beeinträchtigungen vor allem angeboren oder auf Krankheiten, Unfälle oder Kriegsdienst- oder Zivildienstbeschädigung zurückzuführen. Drei Viertel der Menschen mit Beeinträchtigung sind in Deutschland älter als 55 Jahre, der Anteil der unter 18-Jährigen beträgt lediglich 2 Prozent. In südlichen Ländern dürfte der Anteil der Kinder und Jugendlichen weitaus höher liegen; das UN-Kinderhilfswerk UNICEF schätzt die Zahl der Kinder mit Beeinträchtigungen weltweit auf 200 Millionen, das entspricht gut einem Drittel aller Betroffenen.
Armut bedingt Risikofaktoren für die menschliche Entwicklung. Länder mit einer hohen Kinder- und Säuglingssterblichkeitsrate – die weisen auf Armut und Unterentwicklung hin – werden vermutlich auch eine hohe Zahl von Kindern und Erwachsenen mit Beeinträchtigungen aufweisen. Man spricht sogar von einem Teufelskreis von Armut und Behinderung: Einerseits sind Armutsfaktoren für eine Vielzahl von Beeinträchtigungen verantwortlich, andererseits gibt es in südlichen Ländern oft nur minimale Unterstützungsangebote, die Menschen mit Beeinträchtigungen eine Teilhabe am wirtschaftlichen und sozialen Leben ermöglichen und für Wege aus der Armut notwendig sind. Zudem werden Menschen mit Beeinträchtigungen ausgegrenzt und diskriminiert, sie können zum Beispiel nicht am regulären Schulunterricht teilnehmen. Der enge Zusammenhang zwischen Armut und Beeinträchtigung wird auch in den Schätzungen der Weltbank deutlich: Sie geht davon aus, dass ein Fünftel der in absoluter Armut Lebenden eine Beeinträchtigung hat.
Für deren Entstehung spielen die ersten Lebensjahre eine wesentliche Rolle. Von 100 Kindern, die im Jahr 2000 geboren worden sind, waren nach Angaben von UNICEF höchstwahrscheinlich 30 in ihren ersten fünf Lebensjahren mangelernährt, 26 waren nicht gegen die grundlegenden Kinderkrankheiten geimpft, 19 hatten keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser und 40 keinen Zugang zu angemessenen sanitären Anlagen. In südlichen Ländern lebte im Jahr 2000 jedes vierte Kind in absoluter Armut. Die tragische Folge ist, dass jedes Jahr immer noch 8,8 Millionen Kinder (Stand 2009) vor Erreichen ihres fünften Lebensjahres sterben. Von den Überlebenden hat ein beträchtlicher Teil langfristige körperliche, intellektuelle, seelische oder Sinnesbeeinträchtigungen erworben.
Auf die Folgen von Mangelernährung werden ein Fünftel der Beeinträchtigungen zurückgeführt. Dabei sind die die Ernährungs- und Gesundheitssituation der Schwangeren sowie die ersten Lebensjahre des Kindes von besonderer Bedeutung. Unter- bzw. Mangelernährung ist in diesem Zeitraum nicht nur lebensbedrohlich, sondern kann zu irreversiblen Schäden führen, die die körperliche und intellektuelle Entwicklung sowie die der Sinnesorgane eines Kindes lebenslang beeinträchtigen. Nach dem Welthungerindex 2010 leiden 32 Prozent aller Kinder unter fünf Jahren unter chronischer Mangelernährung.
Von den Ernährungsstörungen, die sich direkt auf die menschliche Entwicklung auswirken, ist die Protein-Energie-Mangelernährung (PEM), das heißt die ungenügende Aufnahme von Proteinen (Eiweiß) und Kohlehydraten, die wichtigste und am schwierigsten zu kontrollierende. Diese Ernährungsstörung beeinflusst bereits in der Schwangerschaft und vor allem in den ersten zwei Lebensjahren die kindliche Entwicklung. Kinder, die bereits in der Gebärmutter und/oder während der ersten zwei Lebensjahre mangelernährt waren, bleiben häufig nicht nur kleiner als andere, sondern können auch in ihrer intellektuellen Entwicklung langfristig geschädigt sein. Tritt eine PEM erst nach dem zweiten Lebensjahr auf, sind bleibende Schäden nicht zu erwarten. Um die durch die Mangelernährung in den ersten beiden Lebensjahren entstandenen Entwicklungsrückstände zu kompensieren, ist es aber notwendig, neben einer ausreichenden Ernährung psycho-soziale Stimulierungsmaßnahmen anzubieten wie spielerische Förderung durch Mutter-Kind-Gruppen.
Neben der PEM ist das Fehlen eines Spurenelements Ursache für schwerwiegende Beeinträchtigungen. Jodmangel ist die am weitesten verbreitete Ursache von vermeidbaren intellektuellen Beeinträchtigungen. Weltweit leiden rund 50 Millionen Menschen an Entwicklungsstörungen, die mit einer ausreichenden Versorgung mit Jod hätten verhindert werden können. Jodmangel tritt vor allem in bergigen Regionen auf, wie dem Himalaya, der Andenregion oder den Alpen, aber auch im Flachland, das von den Meeren weit entfernt ist, wie in Zentralafrika und Osteuropa. Leidet eine Frau während der Schwangerschaft unter einem chronischen Jodmangel, kann dies beim Kind zum so genannten Kretinismus führen, der sich in intellektuellen Beeinträchtigungen, Taubstummheit, Schielen, spastischen Lähmungen und Kleinwüchsigkeit äußert.
Vitamin A-Mangel ist eine der häufigsten Ursachen für Blindheit, bei Kindern sogar die häufigste: Sieben von zehn blinden Kindern haben ihr Augenlicht aufgrund von Vitamin A-Mangel verloren. Laut Schätzungen sind weltweit 100 bis 140 Millionen Kinder im Vorschulalter mit Vitamin A unterversorgt, vor allem in Südasien und Afrika südlich der Sahara. Von den an Vitamin A-Mangel leidenden Kindern erblinden eine viertel bis eine halbe Million jährlich, die Hälfte von ihnen stirbt innerhalb eines Jahres nachdem sie erblindet sind. Diese Gefahr ist ab dem sechsten Lebensmonat bis zum fünften Lebensjahr am größten.
Mangel an Eisen in der Nahrung bedeutet für schwangere Frauen ein erhöhtes Risiko, in Verbindung mit Schwangerschaft und Geburt zu sterben. Bei Säuglingen und Kleinkindern können Eisenmangelanämien die psychomotorische Entwicklung verzögern und die intellektuelle Lernfähigkeit in Mitleidenschaft ziehen. Die Entwicklungsdefizite können aber aufgeholt werden, sobald die Kinder ausreichend mit Eisen versorgt werden.
In vielen Fällen sind mangelernährte Kinder noch von armutsbedingten Erkrankungen betroffen. Einerseits verschlimmert etwa Durchfall den Zustand der Mangelernährung; andererseits wirken sich Infektionskrankheiten gravierender aus, wenn Kinder mangelernährt sind. Bei der Bekämpfung von Infektionskrankheiten wie Kinderlähmung und Masern konnten in den vergangenen Jahrzehnten Erfolge erzielt werden. Dennoch spielen Infektionskrankheiten wie Lepra, Trachom (eine Entzündung des Auges) und Flussblindheit (ein Befall mit Fadenwürmern, der zum Erblinden führen kann) nach wie vor eine Rolle bei der Entstehung von Beeinträchtigungen. Zu Faktoren wie Ernährung und Infektionskrankheiten kommt oft der Mangel an ärztlicher Versorgung, Bildung, sauberem Trinkwasser und sanitären Anlagen hinzu und spielt bei der Entstehung von Beeinträchtigungen eine Rolle.
Kriegerische Auseinandersetzungen verschärfen einerseits die Armut in den betroff enen Ländern und Regionen. Hinzu kommen Beeinträchtigungen infolge von Unfällen mit Landminen und Streumunition, die noch Jahre oder Jahrzehnte nach einem Konflikt eine verheerende Wirkung entfalten. Weiter erleben die Menschen psychologische Belastungen durch kriegsbedingte Traumata. Auch chemische Kampfstoff e können noch lange nach Kriegsende gravierende Beeinträchtigungen verursachen – zum Beispiel bewirkt Agent Orange lange nach Beendigung des Krieges in Vietnam hauptsächlich körperliche Missbildungen. Von den Faktoren, die im globalen Süden für Beeinträchtigungen verantwortlich sind, seien noch die Auswirkungen von Naturkatastrophen genannt, von denen die südlichen Länder stärker betroff en sind. Das Erdbeben von Haiti Anfang 2010 zum Beispiel hat nicht nur zehntausende Menschen getötet, sondern auch zu einer Vielzahl von körperlichen und seelischen Beeinträchtigungen beigetragen.
Armut, Gewalt und Naturkatastrophen sind in südlichen Ländern die Hauptfaktoren bei der Entstehung von vermeidbaren Beeinträchtigungen. Daher sind Maßnahmen der Armutsbekämpfung und der Friedenssicherung sowie eine inklusive, also den speziellen Bedarf von Menschen mit Behinderung berücksichtigende Katastrophenvorsorge von großer Bedeutung. Es ist wichtig, bei allen Maßnahmen gezielt darauf zu achten, dass vermeidbare Beeinträchtigungen tatsächlich vermieden werden. Zum Beispiel sollte man mangelernährten Kindern in den ersten beiden Lebensjahren neben einer Nahrungsergänzung auch Stimulierungsmaßnahmen anbieten und auf eine ausreichende Vitamin A-Versorgung für Mädchen und Jungen bis zum fünften Lebensjahr achten.
Ferner ist es wichtig, Beeinträchtigungen früh zu erkennen und die notwendige Förderung bereitzustellen. Das Fehlen von Früherkennung und Förderung stellt eines der Hauptprobleme in südlichen Ländern dar. Viele Kinder, die mit leichten Gesundheitsproblemen oder Beeinträchtigungen geboren werden, entwickeln erst dadurch schwere und schwerste Beeinträchtigungen. Daher sollte die inklusive frühkindliche Entwicklung in der Armutsbekämpfung ein deutlich stärkeres Gewicht bekommen. Dabei sollte ein ganzheitlicher Ansatz gewählt werden, der Gesundheit, Ernährung, kognitive und psychosoziale Entwicklung und den Schutz des Kindes umfasst.
Gabriele Weigt
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