Die Situation in Afghanistan wird immer schwieriger. Die Taliban haben in den vergangenen Monaten ihr Operationsgebiet deutlich vergrößert, den Einfluss im Süden und Osten des Landes gefestigt, das Rückzugsgebiet in Pakistan gesichert und neue Fronten im Norden eröffnet. Die Lage in der Umgebung Kabuls ist unklar. Die Führer der Taliban sind überzeugt davon, dass die internationale Koalition schon bald gezwungen sein wird, diese Tatsachen zu akzeptieren und Afghanistan in ein paar Jahren zu verlassen. Seit dem Ende der Regierung Bush haben die USA versucht, eine Strategie für einen Sieg über die Taliban zu entwickeln. Aber sie finden kein überzeugendes Mittel gegen den Vormarsch der Aufständischen.
Im Gegenteil, auf die gegenwärtigen Truppenverstärkungen im Süden und Osten werden die Taliban mit der Ausweitung des Aufstands auf den Norden reagieren. Je nach Stärke des Aufstands lassen sich heute drei Zonen unterscheiden: Erstens Gegenden im Süden und Osten sowie einige Distrikte im Norden, in denen die Aufständischen die Vorherrschaft besitzen; zweitens Regionen wie die Siedlungsgebiete der Hasara in Zentralafghanistan, in denen der Aufstand aufgrund ethnischer oder sozialer Strukturen nicht nennenswert vorankommt; und drittens Gebiete im Norden wie Kundus und Baghlan, in denen der Aufstand deutlicher spürbar ist und noch stärker werden wird.
Autor
Gilles Dorronsoro
ist Politikwissenschaftler, Experte für Afghanistan, die Türkei und Südasien und Gastwissenschaftler bei der US-amerikanischen Carnegie-Stiftung.Ein entscheidender Grund dafür, dass die Staatengemeinschaft keine wirksame Strategie findet, liegt in falschen Vorstellungen von den Taliban: Sie werden oft als rückständig, mittelalterlich und reaktionär dargestellt und als Ansammlung von nur lose organisierten Gruppen, die Probleme verursachen, die man lokal lösen könne. Doch das ist falsch. Die Taliban verfügen über eine Strategie und über gefestigte Strukturen, um sie umzusetzen. Sie sind eine revolutionäre Bewegung, die die Stammesstrukturen Afghanistans vollkommen ablehnt. In dem Staat und der Gesellschaft, die sie schaffen wollen, sollen Mullahs, islamische Geistliche, die politische Führung bilden. Sie verfolgen dasselbe Ziel wie in den 1990er Jahren: Kabul einzunehmen und ein islamisches Emirat zu errichten, das auf der Scharia, der islamischen Rechtsprechung, basiert. Die Struktur der Taliban ist zentralisiert genug, um effektiv zu sein, aber flexibel und differenziert genug, um sich lokalen Gegebenheiten anzupassen. Ausländische Beobachter, die den Irak im Hinterkopf haben, mögen denken, dass man sich Konkurrenz oder Meinungsverschiedenheiten unter den Taliban-Kommandanten zunutze machen könnte. Aber solche Bruchstellen gibt es nicht.
Die heutigen Taliban sind zweifellos die fähigste Guerillabewegung, die es je in Afghanistan gegeben hat. Sie sind in der Lage, landesweit Tausende von Kämpfern zu mobilisieren. Sie können komplexe Angriffsbewegungen koordinieren, sind mobil und perfektionieren den Einsatz selbstgebauter Bomben und Minen. Ihre Feindaufklärung ist gut. Ihre Sympathisanten sorgen dafür, dass sie im Voraus über Bewegungen der Koalitionstruppen informiert werden, wenn Truppen der afghanischen Regierung daran beteiligt sind. Und auch wenn die internationale Koalition es nicht wahrhaben will: Die Soldaten der Taliban sind mutig. Sie nehmen schwere Verluste in Kauf, was die Behauptung widerlegt, dass es ihnen vorrangig um Geld gehe. Die Taliban machen sich die wachsende Unzufriedenheit der Afghanen mit Hilfe eines Propagandaapparates zunutze, der mittels Radio, Video und heimlich zugestellten Botschaften durchschlagenden Erfolg hat.
Die Aufstandsbewegung kommt voran, weil sie geschickt drei politische Probleme in Afghanistan nutzt: Erstens sind die Paschtunen – sie sind mit etwa 40 Prozent der Gesamtbevölkerung die größte Volksgruppe – von der Zentralregierung enttäuscht, weil dort ihrer Meinung nach Politiker und Interessen anderer Ethnien ein Übergewicht haben. Zweitens bezweifelt die Öffentlichkeit zunehmend die guten Absichten und die Effizienz der internationalen Koalition. Und drittens sind die Menschen tief frustriert und verängstigt davon, dass staatliche Institutionen auf lokaler Ebene fehlen oder aber korrupt und nutzlos sind.
Zum ersten Punkt: Bei keinem meiner Besuche in Afghanistan seit 1988 habe ich so viel Misstrauen und Feindseligkeit zwischen Paschtunen und anderen Ethnien erlebt wie im April 2009. Das Kräfteverhältnis zwischen den Gruppen hat sich gewandelt. Die Paschtunen sind im Norden in der Minderheit und werden dort diskriminiert. Konflikte zwischen Volksgruppen und Fraktionen, die früher nur lokale Auswirkungen hatten, finden jetzt ein Echo im ganzen Land. Dazu haben nicht zuletzt die afghanischen Medien beigetragen: Statt die Verständigung zwischen den Volksgruppen zu fördern, haben sie in den vergangenen Jahren Ressentiments geschürt. Einflussreiche Politiker besitzen Fernseh- und Radiostationen und nutzen sie, um ihre Anhänger zu mobilisieren.
Die Verbitterung der Paschtunen ist ein wesentlicher Grund für den Erfolg des Aufstands im Süden. Die geringe Zahl der Paschtunen im Norden könnte hingegen die Erhebung dort ernsthaft behindern. Und die Taliban können nicht hoffen, ganz Afghanistan zu „gewinnen“, ohne die Rebellion auf das ganze Land auszuweiten. Deshalb ist die „ethnische“ Frage für sie entscheidend: Wie können die Taliban den Groll der Paschtunen im Süden nutzen und gleichzeitig die Aufstandsbewegung so ausweiten, dass sie im Norden andere Volksgruppen erfasst? Um dieses Dilemma zu lösen, setzen die Taliban Anhänger ein, die nicht paschtunischer Herkunft sind und sich der Bewegung aus ideologischen Gründen angeschlossen haben. Diese Strategie ist anscheinend bis zu einem gewissen Grad erfolgreich. Usbekische und turkmenische Mitstreiter verleihen der Taliban-Bewegung im Norden ein lokales Gesicht. Und wenn der Eindruck entsteht, dass die Taliban den Krieg gegen die internationale Koalition gewinnen, dann können sie auf lange Sicht mehr Zulauf unter nicht paschtunischen Gruppen finden.
Zweitens, die Beziehungen zwischen Ausländern und Afghanen haben sich aus drei entscheidenden Gründen verschlechtert: wegen der Isolation der Ausländer, der willkürlichen Gewaltanwendung und Tötung von Zivilisten und dem Mangel an Redlichkeit bei der Verteilung der Entwicklungshilfe. Mehr als 10.000 Ausländer, von denen die meisten in Kabul leben, halten die afghanische Bevölkerung auf Distanz und genießen einen Lebensstil, der sich krass von dem der Afghanen abhebt. Statt die Bevölkerung auf ihre Seite zu ziehen, schottet die internationale Gemeinschaft ihre Botschaften und wichtige Verwaltungsorgane weitgehend ab. Ausländer beziehen vergleichsweise üppige Einkommen, zahlen oft keine Steuern und die meisten lernen keine einheimische Sprache. Das steigert den traditionellen Argwohn der Afghanen.
Zivile Opfer bei Angriffen der internationalen Truppen und willkürliche Festnahmen haben den Groll weiter angefacht. In den kulturellen Kategorien der Afghanen hat sich die internationale Koalition vom „Gast“ zum „Feind“ gewandelt. Die Aktionen von Elitetruppen sind immer ein politisches Desaster, auch wenn sie technisch gesehen erfolgreich sind. Zivile Tote nach Bombenangriffen sind verheerend für das Ansehen der Koalition in der Bevölkerung.
Schließlich trägt auch Willkür bei der Vergabe ausländischer Hilfe dazu bei, dass die Unzufriedenheit der Afghanen ständig wächst. Die Entwicklungshilfe ist Teil einer Kriegswirtschaft und hat eine Gesellschaft hervorgebracht, die meint, auf das Geld aus dem Ausland Anspruch zu haben. Mancherorts hängen die Menschen von ausländischen Subsidien ab, die von den Wiederaufbauteams der internationalen Schutztruppe ISAF (Provincial Reconstruction Teams, PRT) oder von Hilfsorganisationen verteilt werden und nur zum kleinen Teil in den Ausbau der Infrastruktur fließen. Statt soziale Spannungen zu lindern, hat dies hohe Erwartungen geweckt und zu großen Rivalitäten auf lokaler Ebene geführt.
Der dritte Grund für den Erfolg des Taliban-Aufstands ist das Fehlen einer Verwaltung auf Distriktebene und die beschleunigte politische Zersplitterung der vergangenen Jahre. Präsident Hamid Karsai hatte von Anfang an keine politische Basis und versuchte, lokale Machthaber zu beseitigen, die ihm die Kontrolle über entlegene Gebiete streitig machen konnten. Er besetzte wichtige Posten mit Bündnispartnern, die er mehr nach persönlichen Beziehungen auswählte als nach Kompetenz. Als Folge gibt es heute nur wenige Politiker, die ein nennenswertes Territorium kontrollieren. Und auch diese wenigen tragen nicht zum Wiederaufbau des Staates bei. Sie erheben Grenz- und Wegezölle und beziehen persönliche Einkünfte aus dem legalen oder illegalen grenzüberschreitenden Handel. Doch sie setzen diese Ressourcen nicht zum Wohl der Allgemeinheit und zum Aufbau des Staates ein. Hinzu kommt, dass sie einen Prozentsatz der Entwicklungshilfemittel einbehalten.
In den meisten Provinzen gibt es keine Institutionen auf Distriktebene. In dieser Verwaltungs- und Sicherheitslücke bauen die Taliban eine alternative Verwaltung auf, diskreditieren die Zentralregierung und weiten ihren Einfluss auf Gebiete aus, in denen sie ursprünglich keine Unterstützer hatten. Das Hauptproblem ist das Fehlen von Sicherheitsorganen und Gesetzeshütern, speziell Polizisten und Richtern. Es wurde zu wenig Geld für den Aufbau von Institutionen aufgewendet; die Schaffung einer Justiz und Polizei ist völlig gescheitert. In der Provinz Kundus kommen auf eine Million Einwohner theoretisch 1000 Polizisten, die tatsächliche Zahl soll eher bei 500 liegen. Zum Vergleich: Im Bundesland Hessen kommen rund 2500 Beamte auf eine Million Einwohner. In den meisten Fällen versuchen Afghanen ihre Streitigkeiten zu schlichten, indem sie sich an örtliche Räte wenden, die nach der Scharia Recht sprechen.
Das Rückzugsgebiet in Pakistan verschafft den Taliban einen strategischen Vorteil, der einen entscheidenden Schlag gegen ihre Stützpunkte fast unmöglich macht. Die Grenze von der afghanischen oder der pakistanischen Seite her zu sperren, ist faktisch unmöglich. Die Zahl und der Umfang amerikanischer Grenzposten reicht bei weitem nicht aus, ein Einsickern zu verhindern. Bestenfalls können sie Informationen liefern über die Häufigkeit und den Umfang von Grenzübertritten.
Den größte Rückhalt genießen die Taliban in den Provinzen Kandahar, Zabul und Ghazni südlich von Kabul. Dort werden sie von einem beträchtlichen Teil der Bevölkerung und ihrer Eliten unterstützt, hauptsächlich von Mullahs, aber auch von Grundbesitzern und Stammesführern. In diesen Provinzen befindet sich die internationale Koalition in einer vergleichbaren Lage wie die Sowjetunion in den 1980er Jahren: Sie ist in ihren Stellungen weitgehend isoliert und handelt ohne die Unterstützung oder die Akzeptanz der Zivilbevölkerung. Die Taliban wollen eine Situation schaffen, in der die Distriktverwaltung keinerlei Kontakt mehr zur Bevölkerung hat, und auf dem Land eine Parallelverwaltung aufbauen. Das würde den Leuten klar machen, dass der Staat sie weder schützen noch ihnen Dienstleistungen anbieten kann. Sie würden gedrängt, stattdessen die Justiz und die Ordnung der Taliban zu akzeptieren. Die US-Armee sähe sich gezwungen, selbst flächendeckend für Sicherheit und lokale Verwaltung zu sorgen. Das wiederum gäbe den Taliban die Gelegenheit, die ausländischen Besatzer anzuprangern und Widerstand gegen sie zu mobilisieren.
Die Taliban verfolgen systematisch Afghanen, die mit Ausländern zusammenarbeiten, vor allem Übersetzer der US-Armee, aber auch solche, die für nichtstaatliche Organisationen oder die UN arbeiten. In einer Moschee, die 200 Meter entfernt ist vom Sitz der UN-Mission für Afghanistan in Gardez, der Hauptstadt der östlichen Provinz Paktia, ruft ein Prediger dazu auf, Ausländer und Afghanen, die für sie arbeiten, zu töten. In Kandahar gibt es Taliban in der ganzen Stadt, sie bespitzeln die Einwohner und bringen ihre Gegner um.
Die Stammesstruktur ist in den meisten Gegenden Afghanistans schwach und bietet keine Alternative zur Herrschaft der Taliban oder der USA. Paschtunen haben im allgemeinen eine Stammesidentität, die eher flexibel und offen ist und nicht festen Stammesinstitutionen gleichgesetzt werden sollte. Politische Geschäftemacher, besonders in Kandahar, können sich auf diese Identität stützen, um Patronagesysteme aufzubauen. Doch die Institutionen der Stämme sind im Allgemeinen eher schwach außer in einigen östlichen Provinzen.
Die US-Truppen haben seit 2002 versucht, die Taliban mit Hilfe von Stämmen zu bekämpfen; besonders Khost ist oft als erfolgreiches Beispiel präsentiert worden. Das erste amerikanische PRT in Gardez in der an Khost grenzenden Provinz Paktia wurde im Rahmen eines Versuchs gegründet, die dortigen Stämme gegen die Taliban einzusetzen. Sein jährliches Budget beträgt Dutzende Millionen Dollar, mit seiner Hilfe konnte die örtliche Kommandantur beachtliche Entwicklungsprogramme in der Landwirtschaft und in anderen Bereichen anschieben. Trotzdem ist die Stammesstruktur weiter geschwächt worden. Die Taliban haben stammesübergreifende Einheiten aufstellen können, selbst in Gebieten, wo die Volksgruppen gewöhnlich verfeindet sind. Die Taliban erlauben ihnen, Geld von den PRT zu nehmen, dafür gestatten die Stämme Gruppen von Aufständischen, ihr Territorium zu durchqueren.
Nachdem sie in den südlichen und östlichen Provinzen ihre Ziele erreicht haben, bemühen sich die Taliban, eine Front im Norden zu eröffnen – in den Provinzen zwischen Herat und Badachschan. Der Eindruck, dass es in den nördlichen Provinzen ruhig sei, täuscht. Die Taliban sind mit kleinen, aber effizienten Trupps in den Nordwesten und Nordosten vorgedrungen und weiten ihren Einfluss aus. Wenn die internationale Koalition nicht rechtzeitig gegen diesen Vorstoß mobil macht, hat sich in zwei bis drei Jahren der Aufstand auf das ganze Land ausgedehnt und sie wird schlicht nicht mehr in der Lage sein, ihn einzudämmen. Wenn die USA ihre Truppen aufstocken, wird das kaum zu einer nennenswerten Strategieänderung der Taliban führen. Denn die neuen Truppen werden im Süden konzentriert, um den dortigen Militärapparat zu stärken. Dieser Aufmarsch wird den Taliban nutzen: Sein Erfolg im Süden ist unwahrscheinlich und der Norden bleibt offen für das Einsickern der Aufständischen.
Die internationale Koalition müsste den Krieg gegen die Taliban als Angelegenheit des ganzen Landes betrachten und sich eine Strategie einfallen lassen, mit der der Aufstand gestoppt werden kann. Sie müsste, statt sich auf die Anführer der Taliban in Afghanistan zu konzentrieren, mehr auf deren Hauptquartier im pakistanischen Quetta achten und Druck auf Pakistans Regierung ausüben, dagegen vorzugehen. Sie sollte ferner neue Truppen in Gebieten konzentrieren, in denen die Taliban noch relativ schwach sind – also um Kabul und im Norden –, um deren Strategie, den Krieg auf das ganze Land und alle Ethnien auszuweiten, etwas entgegenzusetzen.
Die gegenwärtige Strategie, die Verstärkung auf die zwei südlichen Provinzen Helmand und Kandahar zu konzentrieren, ist riskant. Da es dort keine afghanischen Institutionen gibt, werden die Koalitionstruppen sehr lange dort bleiben müssen, um die Rückkehr der Taliban zu verhindern, die dank ihres Rückzugsgebiets in Pakistan in der Lage sind, rasche Angriffe durchzuführen und wieder zu verschwinden. Außerdem könnten die Aufständischen schnell ihre Ressourcen in den Norden umleiten. Schließlich werden 2010 noch mehr Truppenverstärkungen nötig sein, wenn die Koalition ihre Politik des „Säuberns und Haltens“ auf andere Provinzen ausweiten will.
Aus dem Englischen von Christian Neven-Du Mont
Wir übernehmen den Beitrag gekürzt mit freundlicher Genehmigung der Carnegie-Stiftung, die ihn unter dem Titel „The Taliban’s Winning Strategy in Afghanistan“ publiziert hat.
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