Im Sand begraben

Kambodschas boomende Wirtschaft lockt immer mehr Investoren aus dem Ausland an. Der Druck wächst, Land zu erschließen und profitabel zu nutzen. Doch seit der Herrschaft der Roten Khmer, die sämtlichen Privatbesitz enteigneten, sind die Besitzverhältnisse vielerorts unklar. Ein Versuch der Regierung, mit ausländischer Hilfe Ordnung zu schaffen, war wenig erfolgreich.
Im Herzen der kambodschanischen Hauptstadt Phnom Penh findet die Erschließung von Grundstücken mitunter zu ungewöhnlichen Tageszeiten statt. So tauchen am Boeung-Kak-See bewaffnete Bauarbeiter gerne kurz vor dem Morgengrauen auf. Ihr Ziel ist es, das historische Gewässer mitten in der Innenstadt verschwinden zu lassen. An seiner Stelle sollen Wohn- und Geschäftsgebäude entstehen. Allerdings leben am Ufer und in der Umgebung des 90 Hektar großen Sees rund 20.000 Menschen. Sie müssen also auch weg. „Die Arbeiter kamen schon früh“, erinnert sich Ngin Savouen, eine 67-jährige Anwohnerin. „Wir hatten keine Zeit, etwas mitzunehmen, und wurden mit Gewehren bedroht. Ich konnte nur zu Gott beten.“
 

Autor

Jonathan Gorvett

ist freier Journalist mit Schwerpunkt Südasien und Südostasien.

Noch während sie betete, begannen die Arbeiter, Tausende Tonnen Schlamm und Sand aus einem nahe gelegenen Fluss direkt in ihr Haus zu pumpen. Auf diese Weise wurde schon die Hälfte der Menschen, die seit drei Jahrzehnten das Ufer oder die Umgebung des Sees bewohnen, aus ihren Häusern und Geschäftslokalen vertrieben. Rund drei Viertel des Gewässers haben inzwischen einer riesigen wüstenartigen Sandfläche Platz gemacht.

Zwei Stunden Fahrt entfernt, in Am Leang in der Provinz Kampong Speu, wurden zeitgleich 20.000 Hektar Land für den Zuckeranbau an zwei Strohfirmen vergeben, die demselben Ehepaar gehören. Das ist doppelt so viel Fläche wie im Rahmen solcher Konzessionen gesetzlich erlaubt.

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Etwa 300 Familien wohnen derzeit auf dem Grundstück. Sie sind ebenso von der Zwangsräumung bedroht wie Fischerfamilien an der Küste bei Kampot. Etwa 34 Familien im Bezirk Kiri Sakor in der Provinz Koh Kong, die am 1. März vor Bulldozern in Sitzstreik gingen, um den Abriss ihrer Häuser zu stoppen, sehen demselben Schicksal entgegen. Laut Menschenrechtsgruppen handelt es sich dabei nur um eine kleine Auswahl der zahlreichen Fälle im ganzen Land.

Die kambodschanische Menschenrechtsgruppe Adhoc berichtet, dass alleine im vergangenen Jahr 12.389 Familien zwangsgeräumt wurden. SST, eine andere Advocacy-Gruppe, schätzt, dass etwa jeder zehnte Bewohner von Phnom Penh in den vergangenen zehn Jahren einmal zwangsumgesiedelt wurde. Gleichzeitig verkündet das kambodschanische Ministerium für Landwirtschaft, Forstwirtschaft und Fischerei, dass die Regierung zwischen 1993 und Juni 2010 Konzessionen für mehr als 1,38 Millionen Hektar Land an 142 private Unternehmen vergeben hat. Andernorts nennt man das „Land Grabbing“ – Landraub.„Das Problem spitzt sich zu“,stellt Naly Pilorge von der kambodschanischen Menschenrechtsorganisation LICADHO fest. „Wir haben im vergangenen Jahr 94 neue Fälle von Land Grabbing mit etwa 49.280 Betroffenen untersucht.“Was am Boeung-Kak-See geschehe, sei kein Einzelfall, bestätigt der UN-Sonderberichterstatter für Menschenrechte in Kambodscha, Surya P. Subedi, nach einem Besuch im Februar. „Landraub von Reichen und Mächtigen ist derzeit eines der größten Probleme im Land.“

Hinter diesem Anstieg verbergen sich das rasante Wirtschaftswachstum und Kambodschas tragische und grauenvolle jüngste Vergangenheit. 2010 wuchs die Wirtschaft des Landes um 5,5 Prozent und lockte insbesondere Investoren aus China, Vietnam, dem übrigen südostasiatischen Raum und dem Mittleren Osten an. Der Druck zur Erschließung und profitablen Nutzung von Land wird damit immer größer, besonders in Phnom Penh. „Ich kenne für Investitionen kein besseres Land als Kambodscha“, sagt Nguon Meng Tech, Generaldirektor der kambodschanischen Handelskammer.„Wir haben viel Land, für das Konzessionen erteilt werden können. Und der Lohn für einen gering qualifizierten Arbeiter liegt bei nur 65 bis 100 US-Dollar im Monat.“

Gleichzeitig klagt Sung Bonna, Vizepräsident der kambodschanischen Gesellschaft für Immobilienentwicklung:„Die Probleme, die wir mit Grundstücken haben, gehen alle auf die Zeit der Roten Khmer zurück.“ 1975 übernahmen die berüchtigten Roten Khmer das Land, nach Jahren des Bürgerkrieges und US-amerikanischer Bombardements. Sie ordneten die vollständige Räumung von Phnom Penh an und siedelten die Bevölkerung in ländliche Gebiete um. Dort nahm das Massaker seinen Lauf, das als „Killing Fields“ in die Geschichte einging. Rund 1,7 Millionen Menschen kamen unter dem Regime der Roten Khmer um – etwa 20 Prozent der Gesamtbevölkerung. Privateigentum war verboten, Landtitel und Besitzurkunden wurden zerstört.

Die Vietnamesen vertrieben 1979 die Roten Khmer, doch Grund und Boden blieben in staatlicher Hand. Tausende Kambodschaner flohen vor der Gewalt in Flüchtlingscamps ins benachbarte Thailand.„Alles kam durcheinander“, fährt Bonna fort. „Als der Konflikt vor zwanzig Jahren endete, gab es überhaupt kein System mehr. Die Leute kamen einfach und ließen sich in den verlassenen Orten nieder, wo sie jedes sichere Stück Land besetzten, das sich anbot.“ Der Boeung-Kak-See in Phnom Penh war auch ein solcher Ort. „Viele der Leute hier stammen ursprünglich aus Flüchtlingslagern in Thailand“, sagt Tep Vanny, eine Ansiedlerin, die vor kurzem ihr Zuhause verloren hat. „Sie kamen Anfang der 1990er Jahre mit dem Ende der Kämpfe hierher zurück.“

2001 verabschiedete die kambodschanische Regierung ein neues Landrecht. Danach durfte jeder einen Landtitel beantragen, der nachweisen konnte, dass er fünf Jahre lang an einem Ort gelebt hatte, ohne dass der ursprüngliche Eigentümer dagegen Einspruch erhob. Viele am Boeung-Kak-See stellten einen Antrag. „Ich hatte Unterlagen, aus denen hervorging, dass ich seit 1989 hier war“, sagt Ly Si Moan, früher im Besitz eines Hauses und eines Pilzzuchtbetriebes mit monatlichen Einnahmen von 1000 US-Dollar, die nun unter Tonnen von Sand begraben sind. „Ich beantragte einen Landtitel bei der Stadtverwaltung, es kam aber kein Bescheid. 2007 kamen ein paar Leute vorbei und sagten, ich müsste umziehen.“

In einem Bericht der NGO Bridges Across Borders Cambodia von Anfang Januar heißt es: „Anfang 2007 wurden den Bewohnern massenhaft die Titel verweigert. Im selben Monat schloss die kambodschanische Regierung mit der privaten Entwicklungsgesellschaft Shukaku Inc. einen Pachtvertrag auf 99 Jahre.“ Das Unternehmen, geleitet von einem führenden Senator der regierenden Kambodschanischen Volkspartei (KVP), Lao Meng Khin, stand für einen Kommentar nicht zur Verfügung. Auch das halten viele für typisch. „Dem ganzen Verfahren fehlt es an Transparenz, Konsultationen und fairem Wettbewerb – jahrelang wusste niemand, wer hinter der Entwicklung des Boeung Kak steht“, sagt die Menschenrechtsaktivistin Naly Pilorge.

Den Anwohnern ließen die Landentwickler nur drei Möglichkeiten. Sie konnten eine Entschädigung von rund 8.500 US-Dollar annehmen, unabhängig von der Größe des abzureißenden Gebäudes. Viele Anwohner hatten aber über die Jahre beachtliche Anwesen und Betriebe aufgebaut. „Ich hatte ein Restaurant mit Seeblick“, sagt Vanny Vill, und zeigt auf einen niedrigen Mauerrest, der aus dem Sand herausragt. „Das ist alles, was übrig geblieben ist. Die Entschädigung habe ich verweigert. Da begannen sie, alles mit Sand und Wasser voll zu pumpen.“

Wahlweise konnte man sich in ein Lager 30 Kilometer außerhalb von Phnom Penh umsiedeln lassen. Aber, so meint Sam Vanna, eine andere Anwohnerin, deren Zuhause jetzt vor dem Abriss steht, „das Umsiedlungslager ist so weit von Phnom Penh entfernt, dass man nicht pendeln kann. Dort gibt es keine Arbeit und keine Infrastruktur.“ Die dritte Möglichkeit war, nach der Neuerschließung in ein neues Zuhause in Boeung Kak zu ziehen. Doch „wenn man diese dritte Möglichkeit gewählt hat, wurde das nicht zugelassen“, erklärt Sam Vanna. „Dann bekam man einfach wieder die ersten beiden Optionen angeboten.“

So haben zahlreiche der verbliebenen Anwohner eine Protestkampagne gegen die Zerstörung des Sees und ihrer Häuser organisiert. Die wurde oft mit Gewalt beantwortet. „Die Politiker hören uns nicht zu“, sagt die Sprecherin der verbliebenen Anwohner, Ly Mom. „Stattdessen bedrohen sie uns und schlagen uns, wenn wir versuchen, uns zu wehren.“ Andere sehen das anders. „Die Regierung ist frei, mit ihrem Land zu tun, was sie will, aber manche Leute wollen uns einfach in die Rückständigkeit zurückdrängen. Die Opposition hat die Proteste organisiert“, sagt Nguon Meng Tech von der Handelskammer. Viele Anwohner erzählen aber, dass sie bei der letzten Wahl für die regierende KVP gestimmt haben. Viele sagen auch – und das bestätigen auch Menschenrechtsorganisationen –, dass die kambodschanische Regierung gegen ihr eigenes Landrecht verstoßen hat, indem sie die Zwangsräumung von Boeung Kak unterstützt, während sie gleichzeitig die legitimen Proteste unterdrücken will.

Die gegenwärtigen Ereignisse haben möglicherweise auch Folgen für internationale Organisationen. Die Weltbank hat bis September 2009 die kambodschanische Regierung dabei unterstützt, den Landbesitz zu regeln und förmliche Landtitel auszustellen. Unter dem Namen Land Management and Administration Project (LMAP) sollte erreicht werden, was ähnliche Projekte schon in den früheren kommunistischen Ländern Osteuropas bewirkt hatten. Auch dort war der Grundbesitz früher dem Staat vorbehalten, so dass sich nach dem Zusammenbruch der Regime zahlreiche widerstreitende Ansprüche auf Grundstücke und Wohngebäude gegenüberstanden.

In Kambodscha wurden im Rahmen von LMAP Teams für Landregistrierung eingesetzt, die in die Gebiete gingen, in denen seit dem Landgesetz von 2001 private Besitzansprüche geltend gemacht werden konnten. Lokale Repräsentanten wurden mit einbezogen und widerstreitende Ansprüche ausdiskutiert, in dem Bestreben, einen Großteil der Verfahren außergerichtlich zu regeln. Etwa 1,2 Millionen Titel wurden vergeben, allerdings nicht für Boeung Kak und andere Gebiete. Dort hatte die Regierung festgelegt, dass es sich um öffentliches Land handele, das für eine Zuerkennung nicht zur Verfügung stehe.

Trotzdem wuchsen Bedenken, besonders als man sich über eindeutige Hinweise auf Zwangsräumungen – in klarer Missachtung der Weltbank-Richtlinien für Umsiedlungen – nicht länger hinwegsetzen konnte. 2009 wandte sich die Weltbank an die kambodschanische Regierung, die das Projekt prompt drei Monate vor der geplanten Zeit beendete. Die Weltbank ordnete eine interne Untersuchung des LMAP an, die zu verheerenden Ergebnissen kam. Der Leiter der Untersuchung, Roberto Lenton, erklärte Anfang März, die Vertreibungen am Boeung-Kak-See hätten den Anwohnern „großen Schaden“ zugefügt und klar gegen die Richtlinien der Bank verstoßen. Die Weltbank räumte schwere Versäumnisse ein und forderte die kambodschanische Regierung auf, die Vertreibungen zu stoppen und die Betroffenen zu entschädigen. Diese entgegnete jedoch, die Ansiedlungen am Boeung Kak-See seien nicht Teil des LMAP-Projektes und fielen deshalb nicht unter die darin festgelegten Bedingungen für einen sozialen Ausgleich.

Die deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) und die staatlichen Entwicklungsagenturen Kanadas und Finnlands unterstützen die kambodschanischen Behörden weiter bei der Ausgestaltung des Rechtsrahmens für die Landreform und der Registrierung von Privatbesitz, nun unabhängig vom Vorläuferprojekt LMAP. Die Vergabe von Landtiteln werde als höchste Priorität gesehen, um weitere Vertreibungen in anderen Teilen des Landes zu verhindern, teilte die GIZ auf Anfrage mit. Es fehle an grundlegenden Rechtstexten sowie an institutionellen und organisatorischen Kapazitäten, um die Landreform voranzutreiben. Die GIZ entwickle ferner gemeinsam mit den kambodschanischen Behörden Wege für einen sozial verträglichen Umgang mit den Bewohnern informeller Siedlungen in der Stadt und auf dem Land.

Am Boeung-Kak-See bitten die Anwohner internationale Organisationen nun um Hilfe. „Sie sind hierher gekommen und haben mit uns gesprochen. Unsere letzte Hoffnung ist, dass sie Druck ausüben können, damit das hier aufhört“, sagt Ly Mom. Unterdessen sieht Ngin Savouen am Seeufer zu, wie der Sand die halbe Höhe der Wände in ihrem Haus erreicht hat. „Mein Mann wurde von den Roten Khmer getötet“, erzählt sie. „Es war 1979 und wir versuchten, nach Phnom Penh zurückzugelangen, aber sie fingen uns ab und erschossen ihn am Straßenrand. Ich habe unter den Roten Khmer dreieinhalb Jahre in der Hölle verbracht. Jetzt bin ich wieder in der Hölle.“

Die meisten Proteste in Boeung Kak werden von Frauen organisiert, die auch den Großteil der Demonstranten stellen. „Erstens liegt das daran, dass wir festgestellt haben, dass es viel eher Gewalt gegen uns gibt, wenn Männer dabei sind, und wir sind eine gewaltfreie Bewegung“, sagt Tep Vanny, eine junge Hausfrau, zur Begründung. „Und dann“, fährt sie fort, „liegt es auch daran, dass viele Männer in der Armee und weit weg von hier sind. Viele von ihnen sind gerade in Preah Vihear und verteidigen den Tempel gegen die Thais.“ Sie bezieht sich auf den jüngsten Grenzkonflikt zwischen Kambodscha und Thailand um eine historische buddhistische Kultstätte an der nördlichen Landesgrenze. „Es ist schon komisch“, sagt sie, „dass sie ihr Leben riskieren, um die kambodschanische Heimat zu verteidigen, während ihre eigene Heimat in Kambodscha hier gerade unter den Sandmassen begraben wird.“

Aus dem Englischen von Barbara Kochhan.
 

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