Die Hülle des Nationalstaats abstreifen

Ein Weltparlament könnte Gesetze verabschieden, die für alle Staaten, Unternehmen und Individuen gelten. Angesichts globaler Probleme wie dem Klimawandel finden die Autoren diese Vision vielversprechend. Aber sie ignorieren dabei manchmal die Wirklichkeit.

Der Klimawandel, die Instabilität der Finanzmärkte oder auch die Folgen gescheiterter Staaten zeigen, dass die Menschheit zunehmend vor „transsouveränen Problemen“ stehe, schreiben der SPD-Europapolitiker Jo Leinen und der Geschäftsführer der Initiative „Demokratie ohne Grenzen“, Andreas Bummel. So bedrohe der weitere Anstieg von Treibhausgasen die Menschheit als Ganzes und lasse sich nur durch Zusammenarbeit der Staaten in den Griff bekommen. Ohne einen übergeordneten Rechtsrahmen sei diese aber  schwierig, denn aus Angst vor Nachteilen beginne kaum eine Regierung selbstständig mit Reformen. Der Biologe Garret Harden bezeichnete diese Dynamik einst als „Tragödie der Gemeingüter“: Ohne verbindliche globale Arbeitnehmer- und Sozialrechte, unterbieten sich die Staaten gegenseitig, um Unternehmen anzulocken, die Arbeitsplätze und Steuereinnahmen versprechen.

Völkerrechtliche Verträge bieten nach Ansicht der Autoren keinen Ausweg aus diesem Dilemma, denn sie beruhen auf Freiwilligkeit und ermöglichen immer auch das Ausscheren einzelner Staaten. Internationale Verträge seien deshalb oft nur ein fauler Kompromiss, weil sie inhaltlich verwässert würden, damit möglichst viele Staaten zustimmten. Ein Weltrecht hätte  dagegen Vorrang vor innerstaatlichem Recht und dem Völkerrecht. Damit die einzelnen Staaten nicht umgangen werden, sollen sie in einer zweiten Kammer Gehör finden, deren Zustimmung zur Verabschiedung von globalen Gesetzen nötig wäre.

Indem sich die direkt gewählten Abgeordneten im Weltparlament nicht nach ihrer Herkunft, sondern in politischen Fraktionen organisieren, würden Probleme im Interesse der gesamten Menschheit betrachtet. Dabei lassen Leinen und Bummel einen Strukturoptimismus durchscheinen, der nicht immer nachvollziehbar ist. Sie gehen davon aus, dass ein Weltparlament die Herausbildung einer globalen Identität und grenzüberschreitender Solidarität fördert. Dagegen spricht die Geschichte der Europäischen Union: Inzwischen nutzen rechtspopulistische Parteien wie die Alternative für Deutschland das europäische Parlament als Bühne, um ihre nationalistischen Phantasien zu verbreiten.

Abschließend deuten Jo Leinen und Andreas Bummel an, wie der Weg dahin aussehen könnte. Als ersten Schritt fordern sie ein beratendes Gremium für die Vereinten Nationen, das sich aus den Abgeordneten der nationalen Parlamente zusammensetzt. Dessen Zuständigkeiten sollen Stück für Stück wachsen. Es könnte militärische Friedensoperationen überwachen und mit darüber entscheiden, wer dem Internationalen Währungsfonds oder der Welthandelsorganisation vorsteht.

Erst am Ende der Entwicklung stünde ein Weltparlament, das sich aus direkt gewählten Abgeordneten zusammensetzt. Dabei sei klar, dass Demokratie auf der globalen Ebene in ihrer Idealform nicht realisierbar sei, weil die reale und gefühlte Partizipation der Bürger abnehme, je größer die politische Gemeinschaft sei. Dennoch wäre das ein Fortschritt gegenüber dem jetzigen Zustand, in dem von der Regierung ernannte Diplomaten in internationalen Gremien stellvertretend für ein Land sprechen.

Beide Autoren setzen sich seit Jahren – etwa in der Kampagne für ein Parlament bei den Vereinten Nationen – für ein Weltparlament ein. Das Buch ist kein neutrales Werk, sondern Teil dieser politischen Suchbewegung – sie selbst sprechen in der Einleitung von einem „leidenschaftlichen Plädoyer“ und „visionärem Vorausdenken“. Das geht manchmal zu Lasten der Realität: So identifizieren sie in den vom Abstieg bedrohten Mittelschichten des globalen Nordens eine der transformativen Kräfte, die an der Einrichtung eines Weltparlaments interessiert seien. Studien, die gerade diese Schichten für einen Aufstieg rechtspopulistischer Partien mitverantwortlich machen, erwähnen sie nur am Rande. Man hat den Eindruck, dass sich die Autoren die reichhaltig zitierte Literatur so zurechtlegen, wie sie ihnen gerade passt. Das ist zwar ärgerlich, ändert aber nichts daran, dass das Argument im Großen und Ganzen überzeugt: Wenn die Politik eines Landes Auswirkungen auf die gesamte Menschheit hat, brauchen wir neue Formen der demokratischen Entscheidungsfindung, die die Hülle des Nationalstaates abstreift.
 

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