Zwei aktuelle Sachbücher beleuchten die dunkle Seite Indiens. Sie nähren Zweifel am Willen der wechselnden Regierungen, die Menschenrechte zu schützen und die Mehrzahl der Armen am wachsenden Wohlstand zu beteiligen.
Mit über 172 Millionen Wählerstimmen hat die hindunationalistische BJP bei den indischen Parlamentswahlen im April 2014 die absolute Mehrheit errungen. Kein Regierungschef eines demokratischen Landes weiß mehr Wähler hinter sich als der neue Ministerpräsident Narendra Modi. Vom Schwellenland zur Supermacht will er Indien führen. Ist die größte Demokratie der Welt auf dem Weg, ihre Bürger von Armut und Unterdrückung zu befreien?
Die beiden Journalisten Georg Blume und Christoph Hein beschreiben in ihrem Buch „Indiens verdrängte Wahrheit“ anhand zahlreicher Einzelschicksale das harte Leben von Slumbewohnern, Kleinbauern und speziell Frauen am unteren Ende der indischen Kastengesellschaft. Die Massenvergewaltigungen, über die seit dem brutalen Mord an einer Studentin im Dezember 2012 auch deutsche Medien berichten, sind nur die Spitze eines Eisbergs aus systematischer Diskriminierung von Mädchen und Frauen. Nach Berechnungen kanadischer Wirtschaftswissenschaftler sterben in Indien jedes Jahr zwei Millionen mehr Frauen als Männer, etwa durch die Abtreibung weiblicher Föten, im Kindbett, an Unterernährung oder als Opfer von Mitgiftmorden.
Blume und Hein bezeichnen die Untätigkeit der indischen Behörden angesichts dieser massiven Gewalt als Völkermord. In ihrer „Streitschrift gegen ein unmenschliches System“ klagen die beiden langjährigen Asienkorrespondenten selbstgefällige Eliten, profitgierige Wirtschaftsbosse und heuchlerische Politiker an, die zu wenig gegen den Hunger von 700 Millionen Indern und die extreme Benachteiligung von Frauen und Mädchen unternehmen. Dass auch westliche Regierungschefs, Experten und Journalisten sich vom Charme der Jahrtausende alten Kulturnation und ihrer englischsprachigen Führungsschicht einwickeln lassen und über Menschenrechtsverletzungen hinwegsehen, gefährdet nach Ansicht der Autoren den Ruf der Demokratie insgesamt.
Bestenfalls demokratische Oberflächendüngung bewirken nach Ansicht von Dominik Müller die Wahlen in Indien. Die BJP und Narendra Modi, dessen Aufstieg vom Mitglied einer hindunationalen Kaderschmiede zum indischen Ministerpräsident er ausführlich nachzeichnet, sieht der Autor als Totengräber der Demokratie. Müller hat mit Opfern des Pogroms von 2002 gesprochen, in dem mehr als 1000 Muslime von fanatischen Hindus getötet und 150.000 aus ihren Häusern und Geschäften vertrieben wurden. Viele von ihnen warten bis heute vergeblich auf eine Entschädigung für ihre Verluste, für die Modi als damaliger Ministerpräsident des indischen Bundesstaats Gujarat die politische Verantwortung trägt.
Zwar eröffnen die erstarkende Frauenbewegung und die neue Antikorruptionspartei neue Möglichkeiten zivilgesellschaftlichen Engagements. Doch Müller warnt davor, dass die Armen, die überwiegend im informellen Sektor ums Überleben kämpfen, nicht auf die von der Regierung betriebene Marktöffnung vorbereitet sind. Von Gemüsehändlern, die gegen den Markteintritt internationaler Supermarktketten demonstrieren, bis zu verarmten Kleinbäuerinnen, deren Männer aus Verzweiflung über die Schuldenlast bei Saatgutkonzernen Selbstmord begangen haben, verleiht der Autor den Verlierern der Globalisierung eine Stimme.
Der Indienkennerin liefert das Buch von Dominik Müller einen Steinbruch wichtiger Informationen, die jedoch angesichts zahlreicher und langer Zitate nicht immer leicht zugänglich sind. Thematisch stärker zugespitzt und klarer in der Argumentation ist die stellenweise emotionale Streitschrift von Georg Blume und Christoph Hein. Sie sei insbesondere Politikern oder Wirtschaftsvertretern als Lektüre empfohlen, die in Indien Einfluss nehmen können. (Franziska Krisch)
Georg Blume, Christoph Hein
Indiens verdrängte Wahrheit: Streitschrift gegen ein unmenschliches System
Edition Körber Stiftung, Hamburg 2014, 200 Seiten, 17 Euro
Dominik Müller
Indien. Die größte Demokratie der Welt? Marktmacht – Hindunationalismus – Widerstand
Assoziation A, Berlin 2014, 192 Seiten, 16 Euro
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