Dubai/Kabul (epd). „Die vergangenen 20 Jahre habe ich studiert und für eine bessere Zukunft gearbeitet“, sagt Azita Nazimi. „Ich werde nicht zulassen, dass all diese Erfolge verloren gehen.“ Die afghanische Journalistin erinnert sich im Gespräch mit dem TV-Sender Tolo News noch zu gut, wie es beim letzten Mal war, als die Taliban in den 90er Jahren in Afghanistan an der Macht waren. Sie durfte wie viele andere Mädchen nicht mehr zur Schule gehen. Nun droht sich die Geschichte zu wiederholen.
Zwar geben die Taliban sich diesmal weniger radikal als vor 20 Jahren. So erlauben sie Studentinnen an den Universitäten, so lange sie einen Nikab tragen und von den Männern mindestens durch einen Vorhang getrennt werden. Doch gegen Frauenproteste gingen die neuen Machthaber schnell sehr entschieden vor. Als Azita Nazimi mit einer Gruppe von Frauen in Kabul zwei Tage lang gegen die Pläne der Taliban protestierte, keine Frauen an ihrer Regierung zu beteiligen, setzten die Radikalislamisten Tränengas und Elektroschocker ein. Frauen-Demonstrationen gab es auch in anderen Städten, etwa in Herat, im Westen Afghanistans.
Jenseits der Großstädte leben afghanische Frauen in einer anderen Realität: Zwangsverheiratung, Kinderehen und der Verkauf an ältere Männer sind alltäglich. In fast der Hälfte aller Ehen in Afghanistan ist die Braut jünger als 18 Jahre, in 15 Prozent der Fälle sogar jünger als 15. Eine Afghanin bringt im Schnitt 5,3 Kinder zur Welt. Geburten und Schwangerschaft bleiben ein großes Gesundheitsrisiko.
Strenge Trennung der Geschlechter
In Afghanistans tief patriarchalischer Gesellschaft diktiert die „Purda“ den Alltag, eine strenge Trennung der Geschlechter, die Frauen ins Haus verbannt und ihnen den Ausgang nur mit einem männlichen Familienmitglied erlaubt. Dazu kommen Gewalt, Vergewaltigungen, Misshandlungen und sogenannte Ehrenmorde - all dies im Namen einer konservativen Religion und Kultur. Die Taliban und ihr Umgang mit Frauen speisen sich genau aus diesen Quellen.
Doch nun treffen die neuen Herren von Kabul auf urbane Frauen, die fast 20 Jahre lang deutlich mehr Freiheiten genossen haben. Westliche Hilfsorganisationen brachten afghanischen Mädchen Skateboard-Fahren bei, organisierten Frauenfußballvereine, förderten Mädchenchöre an Schulen, unterstützten coole Graffiti-Malerinnen, Robotics-Erfinderinnen, Bowling-Bahn-Inhaberinnen und andere Projekte. Für ein paar Jahre gaben sich alle der Illusion hin, sie würden dem Fortschritt in Afghanistan zusehen. Schließlich war die Invasion Afghanistans 2001 auch damit begründet worden, den Frauen zu ihren Rechten zu verhelfen, die von den Taliban unterdrückt wurden.
Manche Frauen konnten fliehen
Nun prallen zwei Realitäten harsch aufeinander. Die vom Westen hofierte weibliche Elite mit Doppelpässen, Green Cards und anderen Privilegien hat sich in vielen Fällen in Sicherheit gebracht. Frauen wie die Politikerin Fauzia Koofi verfügen über genug Kontakte und Geld, um sich im Ausland einzurichten. Auch andere flohen schnell: „Sie kommen, um mich zu töten“, schrieb Sahraa Karimi, Regisseurin und Leiterin des afghanischen Filminstituts, auf Twitter. Die 38-Jährige slowakische Staatsbürgerin verließ wenig später Kabul mit einem Evakuierungsflug. Die bekannte Sängerin Aryana Sayeed wurde in die Türkei ausgeflogen. Die 36-Jährige hat seit Jahren einen Zweitwohnsitz in Istanbul.
Die meisten Frauen in Afghanistan haben deutlich weniger Glück. Für sie beginnt nun eine schwere Zeit. Die Frauenrechtlerin Mary Akrami, die ein Schutzhaus für Frauen in Kabul leitet und schon länger selbst bedroht wird, will versuchen, weiter zu arbeiten. Sie fühle sich „verraten“, sagte sie jüngst dem TV-Sender France24. Woher die finanzielle Hilfe für sie kommen soll und ob die Taliban wirklich Interesse an einem Frauenhaus haben, ist schwer vorstellbar. Doch es gibt genug andere Frauen in Afghanistan, die nicht in die 1990er Jahre zurück wollen. Es wird schwer sein, sie zum Verstummen zu bringen.