Die neuen populistischen Wohlfahrtsstaaten

REUTERS/Eloisa Lopez
Eine ältere Frau aus Manila (Philippinen) bekommt während der Corona-Pandemie im April 2021 von der Regierung Bargeld.
Sozialleistungen
Viele Schwellenländer bauen ihre Sozialleistungen aus. Sie folgen dabei aber nicht dem Modell der europäischen Industriestaaten mit ihren Sozialversicherungen, sondern schaffen ein neuartiges Wohlfahrtsregime.

Schwellenländer haben in den vergangenen drei Jahrzehnten ihre Sozialhilfeprogramme und Sozialdienste für Arme stark ausgeweitet. Sie haben die Reichweite und die Leistungen der Programme erhöht und ihre Zugangsvoraussetzungen gelockert. Zum Beispiel ist Bolsa Familia in Brasilien in den 2000er Jahren exponentiell gewachsen; unter dem Programm erhalten arme Menschen Geldleistungen, wenn ihre Kinder geimpft werden und zur Schule gehen. Mittlerweile deckt es ein Viertel der brasilianischen Bevölkerung ab. In China soll das Programm Dibao, mit bedingungslosen Bargeldtransfers an Arme, einen Mindestlebensstandard auf dem Land sichern. Im Jahr 2011 hat Peking die offizielle Armutsgrenze von 180 auf 226 US-Dollar pro Jahr angehoben; dadurch ist die Zahl der Personen, die für Dibao infrage kommen, auf 100 Millionen hochgeschnellt.

Wohlfahrtssysteme nehmen heute global zwei gegensätzliche Wege: Die fortgeschrittenen kapitalistischen Länder haben bei der Sozialsicherung erheblich gekürzt und damit ihre Fähigkeit verringert, Ungleichheiten entgegenzuwirken. Schwellenländer dagegen haben ihre Wohlfahrtssysteme ausgebaut, und zwar hauptsächlich auf Grundlage neuartiger Sozialhilfeprogramme.

Sozialhilfe heißt hier: Arme Menschen erhalten spezielle Sach-, Geld- und Dienstleistungen, in der Regel auf Grundlage einer Bedürftigkeitsprüfung. Im Unterschied dazu gehören zur Sozialsicherung Programme und Einrichtungen für regulär Erwerbstätige, zum Beispiel Altersrente, Arbeitslosen- und Krankengeld. Zusammen mit dem Gesundheits- und Bildungswesen und anderen Sozialdiensten bilden sie das, was üblicherweise als Wohlfahrtsstaat bezeichnet wird.

Einzelne Sozialhilfeprogramme haben enorme Reichweite

Die Sozialhilfeprogramme in Schwellenländern sind umfangreich. Über eine Milliarde Menschen in Entwicklungsländern, ein Fünftel der Weltbevölkerung, nehmen an mindestens einem staatlichen Sozialprogramm teil. In Indonesien, Mexiko und Südafrika ist es mehr als die Hälfte der Bevölkerung, in Indien und Brasilien etwa ein Viertel, in der Türkei mehr als zwei Fünftel. Dort sind die Programme der sozialen Sicherheit seit den 1990er Jahren durch Sozialhilfeprogramme ersetzt oder ergänzt worden, die ein Viertel der Bevölkerung erfassen, und das kostenlose Gesundheitsprogramm für Arme deckt mehr als zehn Prozent der Menschen ab.

In Indien richten sich sechs verschiedene Programme an Arme, Brasilien und Indonesien haben beide fünf landesweite Sozialhilfeprogramme. Einige solcher einzelnen Programme haben eine enorme Reichweite. So deckt das Child Support Grant in Südafrika allein 21 Prozent der Bevölkerung ab, Bolsa Familia in Brasilien 29 Prozent und das kostenlose Gesundheitsprogramm in Indonesien 31 Prozent. Die fünf größten einzelnen Sozialhilfeprogramme der Welt unterhalten China, Indien und Brasilien.

Die Kaufkraft der Armen wird erhöht

Viele Schwellenländer geben einen wachsenden Teil ihrer Staatseinnahmen dafür aus. So ist der Anteil der staatlichen Gesamtausgaben für Sozialhilfe von 2000 bis 2010 in Brasilien um 142 Prozent gestiegen, in der Türkei um 266 Prozent und in Mexiko um 281 Prozent. Sozialhilfeprogramme verringern in Schwellenländern auch erheblich den Druck, den Markt zur dominierenden Instanz zu machen, denn sie machen arme Menschen von der Teilnahme am Arbeitsmarkt unabhängig. Zum Beispiel tragen sie in Brasilien im Durchschnitt 51 Prozent und in Mexiko 45 Prozent zum Gesamteinkommen der Empfänger bei; in der Türkei erhalten Haushalte, die unter der Armutsgrenze leben, Sach- und Geldleistungen in Höhe von durchschnittlich 70 Prozent des Mindestlohns. Zwar geben diese Länder für Sozialsicherungsprogramme mehr aus als für Sozialhilfe, aber diese ist breiter angelegt, mehr Menschen profitieren davon.

Die Wirkungen sind erheblich. In Brasilien ist die Höhe der Bolsa-Familia-Leistungen relativ gering, doch sie erhöhen die Kaufkraft der Armen stark und kurbeln die Nachfrage an, besonders im Nordosten des Landes, wo das Durchschnittseinkommen extrem niedrig ist. Welche Bedeutung Sozialhilfeprogramme in Schwellenländern haben, zeigt sich auch darin, dass alle diese Länder in den 2000er Jahren spezielle Ministerien dafür eingerichtet haben.

Vier Faktoren bestimmen Entwicklung des Wohlfahrtsstaates

Warum entwickeln sie großzügige und inklusive wohlfahrtsstaatliche Programme? Um das zu beantworten, habe ich von 2017 bis 2022 ein großes Forschungsprojekt koordiniert, das Daten zur Sozialpolitik und zu sozialen Bewegungen in 55 Ländern zusammengetragen hat.

Die Ergebnisse zeigen, dass vier Faktoren die Entwicklung des Wohlfahrtsstaates bestimmen. Der erste ist, ob ein Staat eine längere Phase der Industrialisierung mittels Importsubstitution durchlaufen hat – also eine Phase, in der die Regierung mit Mitteln wie Importzöllen die Einfuhren verringern und durch einheimische Produktion ersetzen wollte. Der zweite Faktor ist, ob während dieser Entwicklungsphase eine starke Arbeiterbewegung im formellen Sektor aufgetreten ist. Der dritte ist, ob der Staat angemessene Kapazitäten entwickelt hat, um unterschiedliche gesellschaftliche Schichten zu besteuern und die so gewonnenen Mittel an andere umzuverteilen. Und der vierte ist, ob in der anschließenden neoliberalen Periode, das heißt seit etwa 1990, die herrschenden Eliten von organisierten und kämpferischen Bewegungen der Armen gezwungen wurden, größeren Teilen der Bevölkerung wohlfahrtsstaatliche Leistungen zuzugestehen.

Autor

Erdem Yörük

ist außerordentlicher Professor für Soziologie an der Koç-Universität in der Türkei und außerordentliches Mitglied am Fachbereich für Sozialpolitik und soziale Maßnahmen der Universität Oxford. Er hat das von der EU finanzierte Forschungsprojekt zu „Emerging Welfare“ koordiniert (emw.ku.edu.tr).
Das Projekt hat gezeigt, dass es im heutigen globalen Kapitalismus (zu dem Länder wie China und Vietnam gehören) vier Typen von Wohlfahrtsregimen gibt: populistische, institutionalisierte, neoliberale und restliche. Zur Gruppe der populistischen Wohlfahrtsstaaten gehören vor allem die Schwellenländer Asiens, Lateinamerikas, des postkommunistischen Raums und Südeuropas, aber auch Japan. Sie weisen bei der sozialen Sicherheit (Altersrente, Krankheit und Arbeitslosenunterstützung) ein knapp überdurchschnittliches Niveau auf und liegen bei der Sozialhilfe und der Gesundheitsversorgung knapp unter dem weltweiten Durchschnitt. Es ist interessant zu sehen, dass Griechenland und Portugal hier mehr Ähnlichkeit mit Brasilien und China haben als mit den Niederlanden oder Frankreich.

In manchen Ländern gibt es keine Arbeitslosenunterstützung

Das institutionalisierte Wohlfahrtsregime findet sich in hochentwickelten OECD-Ländern. Sie weisen die höchsten Wohlfahrtsleistungen auf, besonders hoch bei Gesundheitsversorgung, Sozialhilfe und Absicherung bei Arbeitslosigkeit.

Das neoliberale Wohlfahrtsregime umfasst eine recht uneinheitliche Gruppe von Ländern, darunter Indonesien, Israel, Südkorea, Malaysia und die Vereinigten Staaten. Hier spiegelt die Zusammensetzung der Leistungen die zentrale Ideologie der liberalen und neoliberalen Wohlfahrtslogik wider: Programme der sozialen Sicherheit sind eingeschränkt, aber es gibt Sozialhilfe für diejenigen, die auf dem Markt scheitern. Diese Gruppe schneidet bei Gesundheitsfürsorge, Sozialhilfe und Altersrenten besser ab als die Länder des restlichen Wohlfahrtsregimes, aber es gibt kein gesetzliches Krankengeld und nur relativ geringe Arbeitslosenunterstützung.

Das restliche Wohlfahrtsregime finden wir in den weniger entwickelten Schwellenländern Bangladesch, Mexiko, Pakistan, Peru und Philippinen. Es zeichnet sich dadurch aus, dass eines oder mehrere Programme der Sozialsicherung völlig fehlen. In keinem dieser Länder gibt es Arbeitslosenunterstützung; auch die Altersrenten und die Gesundheitsvorsorge sind verglichen mit populistischen und institutionalisierten Wohlfahrtsregimen sehr bescheiden. Lediglich bei Leistungen im Krankheitsfall sind diese Länder eher großzügig und wenden mehr auf als der globale Durchschnitt.

Arbeiterbewegung und Sozialprogramme gehören zusammen

Wie sind diese unterschiedlichen Regime entstanden? Unsere Untersuchungen zeigen, dass die vier Wohlfahrtsregime mit der Verhandlungsmacht und der politischen Stärke der formellen und informellen Arbeiterschaft zusammenhängen: Die Versuche von Regierungen, zunächst in der Phase der nachholenden Industrialisierung und dann in der neoliberalen Periode die Macht verschiedener Teile der Arbeiterklasse einzudämmen, haben zu unterschiedlichen Wohlfahrtsregimen geführt.

Ich verbinde hier zwei Theorien. Die erste blickt auf Machtressourcen und führt die Ausweitung von Wohlfahrtsstaaten auf die politische Macht der Arbeiterklasse sowie die Vorherrschaft sozialdemokratischer Parteien im Parlament zurück, besonders in Nordeuropa. Der Wohlfahrtsstaat gilt mit anderen Worten als politische Errungenschaft der demokratischen Kämpfe der Arbeiterklassen. Diese Theorie erklärt im Wesentlichen, wie und warum sich die Wohlfahrtsregime in den OECD-Ländern herausgebildet haben. Sie genügt jedoch nicht, um die Entstehung der anderen Typen zu erklären.

Hier hilft ein zweiter Ansatz, der auf die Eindämmung sozialer Bewegungen blickt. Danach hat der moderne Staat, um die Ordnung und seine Legitimität aufrechtzuerhalten, auf Aufstände der Armen mit der Ausweitung von Sozialhilfeprogrammen reagiert. In Zeiten sozialer Unruhen sind solche Programme ein Mittel, mit dem eine Regierung die Kontrolle erlangt. Das weist darauf hin, dass nicht soziale Not, sondern sozialer Aufruhr der Hauptgrund für eine Politik der Sozialhilfe ist.

Demnach sind neoliberale Wohlfahrtsregime dort entstanden, wo nach dem Zweiten Weltkrieg starke Arbeiterbewegungen fehlten, was den Aufbau von starker Sozialsicherung behinderte, und dann aber eine politische Radikalisierung der Armen eintrat. Dies geschah zunächst in den 1960er Jahren in den USA, später auch anderswo, und brachte Sozialhilfepolitik als Mittel der politischen Eindämmung hervor.

Manche Wohlfahrtsstaaten sind durch Populismus entstanden

Auch in der Gruppe der restlichen Regime ist die Sozialsicherung (Altersrente, Arbeitslosen- und Krankengeld) nicht nennenswert ausgebaut, weil die Entwicklungsphase in diesen Ländern nicht zu einer starken Arbeiterbewegung mit bleibender politischer Wirkung geführt hat. Später, während der neoliberalen Periode, war dort die Mobilisierung der Arbeiterklasse nicht stark genug, um den Abbau der zuvor entstandenen Ansätze einer Sozialsicherung zu verhindern. Und es gibt dort zwar in gewissem Ausmaß Bewegungen von Armen, die sich gegen Unterdrückung aufgrund von ethnischer Herkunft oder Rassismus radikalisieren. Aber diese Länder haben nicht genügend Finanzmittel, um Sozialhilfe- und Gesundheitsprogramme vom Umfang wie in populistischen Wohlfahrtsstaaten aufrechtzuerhalten.

Populistische Wohlfahrtsstaaten wiederum sind in zwei aufeinander folgenden Wellen des Populismus entstanden. Die erste war der traditionelle Populismus, den viele Entwicklungsländer im zweiten und dritten Viertel des zwanzigsten Jahrhunderts erlebten. Er wird mit Führern wie Getulio Vargas in Brasilien, Juan Peron in Argentinien, Bülent Ecevit in der Türkei, Salvador Allende in Chile und Indra Gandhi in Indien in Verbindung gebracht.

Die Populisten dieser Periode weiteten Leistungen der sozialen Sicherheit für die privilegierte Minderheit der Beschäftigten im formellen Sektor der Privatwirtschaft und des öffentlichen Dienstes aus. Damit wollten sie einerseits radikale Strömungen in der Arbeiterklasse eindämmen und andererseits die Unterstützung eben dieser Klasse für sich mobilisieren. So entstand ein fragmentiertes System sozialer Sicherheit, das den privilegierten Beschäftigten im formellen Sektor und der Beamtenschaft zugutekam – auf Kosten der informellen Armen in Stadt und Land. Eine Parallele dazu bildeten die Regeln, die im sowjetischen Block und in China die Arbeiterschaft bevorzugten.

Die zweite Welle des Populismus ist in den 2000er Jahren aufgetreten, also in der neoliberalen Ära. Jetzt betonen Populisten den Gegensatz zwischen einfachem Volk und den Eliten. Die Anführer dieser zweiten Welle waren etwa Lula da Silva in Brasilien, Nestor Kirchner in Argentinien, Recep Tayyib Erdogan in der Türkei, Thaksin Shinawatra in Thailand, Victor Orban in Ungarn, Narendra Modi in Indien und Alexis Tsipras in Griechenland. Diesmal sind, besonders in den 2010er Jahren, die Armen oder die informell Arbeitenden zur Hauptquelle der politischen Unruhen und der Unterstützung für populistische Führer avanciert. Diese haben umfangreiche Maßnahmen der Sozialhilfe und Gesundheitsfürsorge auf Arme ausgeweitet, um deren Aktivismus einzudämmen und ihre politische Rückendeckung zu gewinnen.

Gleichzeitig ist die Verhandlungsmacht der Arbeiterklasse im formellen Sektor intakt geblieben, besonders in den frühen 1990er und 2010er Jahren. Es ist ihr gelungen, die Kürzung bestehender Sozialleistungen zum erheblichen Teil abzuwehren. Und ein starker Anstieg von Unruhen in populistischen Regimen scheint gegenwärtig ein Schlüsselfaktor für die Ausweitung der Sozialhilfe zu sein.

Im Ergebnis verringert die populistische Staatengruppe bei Wohlfahrtsleistungen den vormals großen Abstand zu den europäischen OECD-Ländern. Bis vor kurzem war der Westen für die restliche Welt beim Wohlfahrtsstaat das Modell. Doch nun haben Schwellenländer die Führung bei der Entwicklung neuer Sozialprogramme übernommen, die weder dem Muster älterer Armutsbekämpfungsprogramme der westlichen Welt folgen noch diese nachahmen. Schwellenländer erfinden ein neuartiges Wohlfahrtsregime, in dem Sozialhilfetransfers an Arme viel mehr Gewicht haben als im institutionalisierten Wohlfahrtsregime.

Aus dem Englischen von Anja Ruf. 

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