Wenn das Warten nicht aufhört

Femke van Zeijl
Die Rückkehrer, die aus Libyen zurück nach Nigeria geflogen worden sind, warten am Flughafen auf den Van, der sie zur Registrierung zur Ausländerbehörde bringt.
Migranten
Das Rückkehrerprogramm von EU und UNO soll in Libyen gestrandeten Nigerianern helfen, wieder in ihrer Heimat Fuß zu fassen. Funktionieren kann es nur, wenn die Versprechen auf (Neu)Starthilfe auch erfüllt werden.

Ahmad, der wie viele andere, die im Transitzentrum im Westen von Lagos untergebracht sind, seinen Nachnamen lieber nicht nennen möchte, kann nicht aufhören, über das Essen zu reden. „Köstlich! So gut haben wir zu Hause in Kano nie gegessen“, sagt der 27-jährige Nigerianer, während er an der Kantine vorbeigeht. „Und das dreimal am Tag! Im Knast in Libyen bekamen wir einmal am Tag Brot, das war alles.“ Es ist Oktober 2022, und vor vier Tagen ist Ahmad zusammen mit 125 anderen nigerianischen Migranten aus Tripoli in Libyen nach Nigeria zurückgeflogen – in einem von der Internationalen Organisation für Migration (IOM) gecharterten Flugzeug. Jetzt bleiben sie alle für eine Woche in diesem Durchgangslager. Hier werden sie auf die Rückkehr in ihre Heimatorte vorbereitet – Orte, von denen sich die meisten von ihnen vor Jahren verabschiedet hatten.

Das Transitzentrum wird von der Europäischen Union mit rund 15,5 Millionen Euro finanziert und ist Teil einer gemeinsamen Initiative der EU, der IOM und der nigerianischen Regierung zum Schutz und zur Reintegration von Migranten. Das Zentrum wurde im Mai letztes Jahr eröffnet und hat seitdem rund 1700 Rückkehrerinnen und Rückkehrer aus Nigeria aufgenommen, hauptsächlich aus Libyen, wo die meisten von ihnen auf dem Weg nach Europa gestrandet waren. Außer mit gutem Essen werden die Rückkehrer hier auch medizinisch und psychosozial versorgt; viele haben unterwegs traumatische Erfahrungen gemacht.

Rückkehrer haben Anspruch auf maßgeschneiderte Unterstützung

Ahmad verließ sein Zuhause vor zwei Jahren. Zuvor hatte er Handys auf dem Markt in Kano verkauft, der größten Stadt im Norden Nigerias. Dann zerstörte ein Feuer sein gesamtes Geschäft. Er entschied sich, nach Europa zu gehen. Eigentlich hat er in Kano Statistik studiert, hat aber in seinem Bereich nie einen Job gefunden: „Die Wirtschaft in Nigeria ist so schlecht. Auch mit meinem Diplom habe ich hier keine Chancen gesehen. Und meine Eltern sind arm, sie verlassen sich auf mich.“ Zweimal versuchte er, mit seinen letzten Ersparnissen das Mittelmeer zu überqueren; beide Male wurde das Boot von der libyschen Küstenwache geschnappt und er landete im Gefängnis. „Wir wurden getreten und geschlagen, in eine kleine Zelle mit viel zu vielen Menschen gesperrt, und bekamen nicht genug zu essen und zu trinken“, sagt er kopfschüttelnd, während er weiter durch das Durchgangszentrum geht.

Autorin

Femke van Zeijl

ist niederländische Journalistin und Autorin und lebt in Lagos.

Mit den Schlafbaracken links und rechts, einem Aufenthaltsraum mit Billard und Tischtennis und einem Fußballfeld draußen ähnelt das Zentrum einer Schullagerunterkunft. Im Schatten stehen Menschen zusammen und unterhalten sich, von irgendwo erklingt ein Transistorradio. Die Rückkehrer sehen bereits viel entspannter aus als bei ihrer Ankunft am Lagos International Airport; viele von ihnen hatten nächtelang nicht geschlafen. 

Ahmad hat die freiwillige Rückkehr beim IOM-Büro in Tripolis beantragt, weil er von einem Freund gehört hat, dass man bei der Rückkehr in die Heimat finanzielle Unterstützung erhalten könne. Nun hofft er auf etwas Kapital, mit dem er wieder ein eigenes Geschäft aufmachen kann: „Dann gehe ich das nächste Mal legal nach Europa, als erfolgreicher Geschäftsmann mit Reisepass und Visum“, sagt er. Die Rückkehrer haben Anspruch auf maßgeschneiderte Unterstützung, je nach Erfahrung und dem erwartbaren Erfolg ihres geschäftlichen Vorhabens. Zur Unterstützung erhalten sie etwa einen Beitrag zur Ausbildung oder zur Gründung eines kleinen Unternehmens. Pro Person stehen maximal 1500 Euro zur Verfügung. Das ist viel Geld in Nigeria, wo das durchschnittliche Jahreseinkommen ungefähr 2000 Euro beträgt und um die vierzig Prozent der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze von 2 Euro pro Person und Tag lebt.

In Nigeria gibt es viele Ursachen für die Flucht 

Wäre ein solcher Betrag nicht ein Anreiz für andere Nigerianer, nach Libyen zu gehen, in der Hoffnung, diese Unterstützung nach ihrer Rückkehr zu erhalten? Ruth Mbugua von der IOM erklärt, die Organisation versuche das zu vermeiden, indem sie sich nicht nur den Rückkehrern, sondern auch anderen Menschen mit ähnlichen Voraussetzungen derlei Unterstützung bietet. Die Idee ist, dass auch Gleichaltrige in der Nachbarschaft in ähnlichen Lebenslagen wie der zurückkehrende Migrant finanziell unterstützt werden könnten. „Damit auch sie Chancen haben, ohne dafür illegal die Grenze überqueren zu müssen.“

Ahmad und seine Freunde kicken einen Ball auf dem Betonfeld hinter den Schlafbaracken der Männer. Es ist Nachmittag und die Strahlen der untergehenden Sonne scheinen weniger erbarmungslos über das Gelände. Laute Rufe in Hausa, der Verkehrssprache Nordnigerias, hallen über das Feld. Während die Rückkehrer früher vor allem aus dem Süden des Landes kamen, zählt die IOM seit einem Jahr immer mehr Nordnigerianer unter den Migranten. „Das ist ein neuer Trend“, sagt Ruth Mbugua. Woran das liegt, könne man bei der IOM noch nicht beurteilen. Klar sei nur, dass die meisten Männer zwischen 20 und 30 Jahren alt seien und häufig aus sozioökonomischen Gründen migrieren, genauso wie die Migranten aus dem Süden. Der Norden ist stärker als der Süden mit den Auswirkungen des Klimawandels konfrontiert, die vorrückende Wüste macht es Bauern und Hirten zunehmend schwer, von ihrem Land zu leben – viele ziehen deshalb in die Stadt. Die Rückkehrer aus dem Norden kommen vor allem aus den städtischen Gebieten wie Kano, Nigerias zweitgrößter Stadt nach Lagos, und Kaduna. Dort könnte die wachsende Unsicherheit eine Rolle für die Entscheidung spielen, die Heimat zu verlassen. Während sich die Gewalt in Nigeria früher auf den Nordosten beschränkt hat, wo extremistische Gruppen wie Boko Haram Angst und Schrecken verbreitet haben, gibt es heute im ganzen Land häufig Überfälle und Entführungen. Dazu kommen noch zwei wirtschaftliche Rezessionen – 2016 und 2020 wegen des Ölpreisverfalls – in Nigeria innerhalb kurzer Zeit. Diese Gemengelage bewegt viele Menschen dazu, ihre Chancen im Ausland zu suchen.

In Kano konnte Ibrahim kein Geld verdienen

Auf dem Fußballfeld steht Ibrahim eine Weile keuchend an der Seite, während er sich vom Spiel ausruht. Wie Ahmad stammt auch er aus Kano. Für ihn seien die Erwartungen seiner Familie ausschlaggebend für die Reise Richtung Europa gewesen. Nach zwei Jahren Abwesenheit freue er sich nun auf das Wiedersehen, sagt er: „Eltern und Familie sind uns wichtig.“ Auf die Frage, warum er sich dann für so lange von ihnen verabschiedet hat, antwortet der 27-Jährige: „Ich bin der älteste Sohn. Mein Vater erwartet von mir, dass ich helfe, auf meine Geschwister aufzupassen. Fast alle gehen noch zur Schule. Jemand muss ihr Schulgeld bezahlen.“ In Kano konnte er kein Geld verdienen, um seinem alternden Vater zu helfen. „Keine Jobs. Und um ein Unternehmen zu gründen, braucht man Startkapital. Das gibt es aber nicht in Kano“, sagt Ibrahim. Als er von Freunden von den Möglichkeiten in Europa hörte, sagte er seiner Mutter, er würde sich durch die Wüste und das Mittelmeer wagen. „Zuerst weinte sie und hat mich angefleht, nicht zu gehen, aber schließlich hat sie es verstanden.“

Ahmad (rechts) mit Freund Ibrahim. Sie haben sich über das von IOM, EU und der nigerianischen Regierung organisierte Rückkehrerprogramm kennengelernt.

Auch Ibrahim strandete in Tripolis, wo er – ohne Aufenthaltsgenehmigung – als Autowäscher Geld verdiente, ständig auf der Hut vor der Einwanderungspolizei. „Damit kam ich nicht zurecht. Ich wurde wie ein Hund behandelt. Oft weigerten sich die Kunden zu zahlen und fuhren einfach weg.“ Als ihm ein anderer Nigerianer erzählte, dass die UN mittellosen illegalen Einwanderern die Rückkehr erleichtert, ergriff er die Chance: „Ich wäre sowieso lieber zu Hause. Auch hier ist es hart, aber wenigstens habe ich Familie.“

Precious wurde an ein Bordell verkauft

Etwas weiter im Durchgangszentrum sitzt Precious  auf einer Veranda, während im Erholungsraum hinter ihr ihre Leidensgenossen miteinander sprechen. Jeden Nachmittag findet ein Treffen statt, bei dem die Rückkehrer ihre Erfahrungen austauschen. Aber die 21-Jährige spricht dort nicht öffentlich von ihrer Geschichte. Sie kommt aus Benin City, dem Gebiet im Süden Nigerias aus dem seit Jahren Migrantinnen kommen, von denen viele Opfer des Frauenhandels wurden. Als sie 16 war, habe ihr der Pfarrer der Kirche einen Job als Putzfrau bei einer älteren Frau in Italien versprochen, sagt sie. Als sie in Libyen ankam und den Pastor anrief, ging er nicht mehr ans Telefon. Der Fahrer, der sie nach Nordafrika gefahren hatte, verkaufte sie dann an ein örtliches Bordell. „Ich war noch ein Baby, wusste nicht einmal, was Sex ist“, sagt Precious tonlos. Inzwischen hat sich herausgestellt, dass sie HIV-positiv ist, weshalb sie in Libyen nicht mehr arbeiten konnte. „Als ich das hörte, wollte ich mir das Leben nehmen“, sagt sie. Die Tatsache, dass ihr Vater auf sie als älteste Tochter zählte, hielt sie davon zurück. Er kann es kaum erwarten, bis sie nach Hause kommt, sagt sie. Er glaube immer noch, dass sie in der Reinigung gearbeitet habe. Sie belässt es dabei: „Er ist alt, ich will ihm nicht die Wahrheit sagen.“

Zurückgekehrte Frauen waren oft Opfer von Menschenhandel, und selbst diejenigen, die nur als Hausangestellte gearbeitet haben, wurden ausgebeutet und missbraucht. Deshalb gibt es im Durchgangszentrum auch psychosoziale Hilfe. Doch die größte Hoffnung schöpft Precious aus der finanziellen Unterstützung, die sie erwartet. Sie würde gerne einen Friseursalon eröffnen, sagt sie: „Ich bete, dass sie mir mit Geld helfen, damit ich mich um meinen Vater und die Familie kümmern kann.“ Precious, Ibrahim, Ahmad und die anderen Rückkehrer haben noch drei Tage im Transitzentrum, bevor sie mit einem bescheidenen Reisebudget der IOM nach Hause gehen. Dort landen sie wieder in der nigerianischen Realität mit 20 Prozent Inflation und 33 Prozent Arbeitslosigkeit.

Vier Monate später ist Precious verzweifelt. „Niemand hat Geld.“ Sie will ihren Vater nie wieder verlassen, weiß aber nicht, wie sie sich ernähren soll, sagt sie am Telefon. Von der IOM habe sie nichts wieder gehört, sie habe außer dem kleinen Reisebudget auch keine finanzielle Unterstützung erhalten. Als sie die Nummer angerufen habe, die ihr die IOM-Kontaktperson gegeben habe, sei ihr gesagt worden, sie solle Geduld haben. „Aber ich bin jetzt pleite“, sagt sie. Ihre Hoffnung, in Benin City einen Friseursalon zu eröffnen, ist dahin.

IOM bittet Rückkehrer um Geduld 

Auch Ahmads Optimismus ist verschwunden. Alles sei so teuer geworden in Nigeria und niemand habe einen Cent übrig, klagt er in einem Telefongespräch aus Kano. Und die finanzielle Unterstützung durch die IOM? „Ich warte immer noch auf einen Anruf.“ Ibrahim wiederum ist nicht mehr erreichbar, er meldet sich nicht am Telefon, wählt man seine Nummer. Einige Monate zuvor hatte er sich, zurück in Kano, noch beschwert: „Alle wollen etwas vor mir und niemand glaubt, dass ich fast zwei Jahre im Ausland war und jetzt trotzdem mittellos bin.“ Damals blieb er zunächst bei seinen Eltern im Haus und versteckte sich. Nach Angaben von Freunden ist er mittlerweile nach Maiduguri im Nordosten Nigerias gereist, um dort sein Glück zu versuchen, und hat sein Telefon verloren.

Warum müssen die Rückkehrer so lange auf die von der IOM zugesagte Unterstützung warten? Als Problem nennt die UN-Organisation auf Nachfrage, dass die von den Rückkehrern angegebenen Telefonnummern häufig nicht funktionieren, wie im Fall von Ibrahim. Die anderen würden zu gegebener Zeit von der IOM hören, versichert der Sprecher. Doch Ahmads Geduld geht langsam zu Ende. Er überlegt sogar, wieder auszureisen: „Wenn sich nichts ändert, werde ich wieder versuchen, nach Europa zu kommen. Meine Mutter findet es schrecklich. Aber ich kann mich hier nicht um sie kümmern.“

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