In China experimentieren Firmen und Behörden mit datengestützter Überwachung der Bürger: Wer hilft anderem im Alltag, bleibt Rechnungen schuldig, fährt schwarz in der Bahn oder spricht öffentlich kritisch über die Regierung – womöglich gar gegenüber Ausländern? Wer schlechte Bewertungen sammelt, riskiert Nachteile zum Beispiel bei der Kreditaufnahme oder den Ausschluss von Fernreisen. Beobachter warnen, wenn die Zentralregierung die verschiedenen Systeme und ihre Daten zusammenführe, entstehe ein System der totalen Überwachung und Kontrolle in der Hand eines autoritären Staates.
Doch warum beteiligen sich dann so viele Chinesinnen und Chinesen an Systemen von Firmen oder Lokalbehörden für „Sozialkredite“? Haben sie keine Angst vor Überwachung? Der Frage ist die Anthropologin Wang Xinyuan in sechzehn Monaten Feldforschung in China nachgegangen. Statt formale Interviews zu führen, hat sie am Alltag von Hunderten Chinesen teilgenommen und mit ihnen über das Thema gesprochen.
Das Ergebnis: Die meisten begrüßen das System der Sozialkredite als Mittel, um Verbrechen und Betrug vorzubeugen. Viele in China beklagten einen Verfall der öffentlichen Moral, der sich zum Beispiel in Verbrechen, in Online-Betrug und in Lebensmittelskandalen zeige. Diese Übel gelten manchen als Folgen von Modernität und Individualismus, anderen als Erbe der Kulturrevolution unter Mao Zedong. Und der großen Mehrheit seien Sicherheit und Schutz davor wichtiger als die Wahrung ihrer Privatsphäre. Wang berichtet etwa von einem Gesprächspartner, der selbst geheime Kameras einsetze, um das Kindermädchen zu kontrollieren. Manche Gesprächspartner glaubten sogar, das System sei nach Vorbildern im Westen gestaltet.
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