Von Laurence Marfaing
In Mauretanien gibt es seit je viele Arten von Migration. Die einen kommen als Saisonarbeiter, andere bleiben im Land, wieder andere reisen weiter – zunehmend nach Europa über die Kanarischen Inseln. Die Europäische Union verschärft deshalb den Druck auf die mauretanische Regierung, gegen illegale Einwanderer vorzugehen. Das aber schürt Spannungen im Land.
Migration gibt es in Westafrika schon sehr lange. Sie hängt eng mit der Saisonarbeit, dem Handel und mit Pilgerfahrten zusammen. Etwa 7,5 Millionen Menschen sollen in der Region in einem Land leben, in dem sie nicht geboren sind. Die Migranten bewegen sich im Raum Maghreb-Sahara-Sahelzone, wo die Staaten schon immer kulturelle, religiöse und kommerzielle Beziehungen gepflegt haben. Heute können dort Menschen und Güter aufgrund von Vereinbarungen im Rahmen verschiedener Regionalorganisationen – etwa der Westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft, der Gemeinschaft der Sahelländer – relativ frei zirkulieren. Mauretanien zum Beispiel ist mit seinen Nachbarn im Norden in der Union des Arabischen Maghreb verbunden und mit den Nachbarn im Süden über bilaterale Abkommen.
Für Migranten südlich der Sahara bedeutet das Wort „Transit“ nicht das Gleiche wie für europäische Migrationspolitiker (vgl. Kasten). Ein Transitland ist zunächst einmal ein Übergangsland, wo sie, wie sie sagen, „den Weg suchen“. Das kann der Weg nach Europa sein, muss aber nicht. Es kann auch eine Arbeitsmöglichkeit bedeuten, den Weg ihres „Erfolgs“. Die Migranten passen sich den jeweiligen Möglichkeiten an und beschließen danach, Halt zu machen oder ihren Weg fortzusetzen.
Mauretanien ist ein Auswanderungsland und war auch immer ein Transitland, wo es alle Arten von Migration gibt: regional und saisonal, Pendler und Arbeitsmigranten. Für sie und die Flüchtlinge aus der Nachbarschaft ist Mauretanien ein Einwanderungsland. Gut 105.000 Ausländer sollen laut der Weltbank dort leben, davon ein knappes Drittel aus der westlichen Welt und zwei Drittel aus Afrika südlich der Sahara. Afrikanische Ausländer machen schätzungsweise 2,5 Prozent der 2,7 Millionen Mauretanier aus. Eine Umfrage unter allen Ausländern ergab 2007, dass 60 Prozent schon seit 2000 im Land waren. Das wundert nicht, denn nur 15 Prozent der Migranten in der Region versuchen das Abenteuer, nach Europa zu gelangen.
Seit den 1990er Jahren haben sich Art, Weg und Ziel der Migration gewandelt, Migranten werden immer häufiger illegalisiert. Nach dem Sturm auf den Grenzzaun in Ceuta und Melilla im Oktober 2005 (vgl. den Beitrag von Mende in diesem Heft) wird die Grenze nach Marokko schärfer kontrolliert, und eine wachsende Zahl von Migranten, die nach eigenem Bekunden nach Europa wollen, bleibt gerade in Mauretanien hängen.
Im Winter 2006 haben die beiden Wissenschaftler Armelle Choplin und Jerome Lombard Nouadhibou als „Hauptstadt der wilden Migration“ ausgemacht, wo „Illegale“ nur darauf warteten, auf die Kanaren zu gelangen. „Jeden Tag kann man zwei bis drei Pirogen mit 30 Passagieren ablegen sehen. Jeden Tag kommen etwa 50 Menschen aus Nouakchott in Nouadhibou an. Jeder zweite wird festgenommen“, sagt der Vertreter einer nichtstaatlichen Organisation (NGO). Im Juni 2006 hat die EU-Kommission Mauretanien mit 2,45 Millionen Euro beglückt, damit das Land „illegale“ Migranten aufhält und ein Lager für sie errichtet. Dieses hat verschiedene Namen: für die mauretanischen Behörden ist es ein „Aufnahmezentrum“, um Migranten aus einer gefährlichen Lage zu retten, für NGOs ein Sammellager, und die Migranten selbst nennen es „Guantánamito“, das kleine Guantánamo. Es ist nicht wirklich arbeitsfähig. „Wir haben unseren Besuch angekündigt, da hatten die Insassen ein neues T-Shirt, einen Beutel mit einem Sandwich und Mineralwasser – aber es gibt dort keine Toiletten, die Pritschen haben keine Matratzen und keine Decken... Der Staat ist nicht in der Lage, jemanden am Weggehen zu hindern oder ihn nach Hause zu schicken, wie Europa es verlangt“, sagt ein Beamter in Nouadhibou.
Die mauretanischen Behörden geben zu, dass es unmöglich ist, die mauretanische Grenze zu kontrollieren – 5070 Kilometer in der Wüste, 750 Kilometer Küsten und 650 Kilometer Flussufer. Sie sind der Ansicht, dass die von der EU verlangten Maßnahmen den Problemen Mauretaniens mit der Migration nicht angemessen sind. Selbst der Begriff des Migranten ist ein anderer, meint ein Beamter: „Dass Menschen hier arbeiten und dann das Land wieder verlassen, hat es schon immer gegeben.“ Schätzungsweise 150.000 kommen jedes Jahr durch Mauretanien, „aber man weiß nicht, wer bleibt und wer weiterzieht; das interessiert die Behörden auch nicht wirklich.“
Die Behörden räumen ein, dass das Phänomen früher nicht dieses Ausmaß hatte, und führen das auf intensivere Kontrollen zurück. Alle Gesprächspartner sind sich einig, dass die illegale Migration nach Europa seit 2006 ein Problem geworden ist. Unklar ist, wieweit das am stärkeren Zustrom von Migranten liegt, an der Schließung der Grenzen zu Marokko oder an der europäischen Migrationspolitik. Die Hilfe, die man erhält, um auf die Migrationsströme einzuwirken, halten die Behörden der Stadt Nouadhibou für „eine gute Sache“. In den mauretanischen Städten, wo Ausländer mit unterschiedlichen Lebenslagen und Reisezielen zusammenkommen, ist die Atmosphäre angespannt.
Der Strand als verbotene Zone
Nouadhibou ist eine Hafen- und Industriestadt, wo der ausländische Bevölkerungsanteil immer schon sehr hoch war. Man nimmt an, dass von etwa 160.000 Einwohnern 30 Prozent Ausländer sind. „Ein Fünftel davon arbeitet und bleibt schließlich mit den Familien hier, ein Zehntel wartet auf eine Gelegenheit zur illegalen Weiterreise“, sagt ein Vertreter einer NGO. In Nouadhibou sind nun alle Ausländer verdächtig. Die schon länger dort ansässig sind und eine feste Arbeit haben, beklagen sich. „Niemand bleibt verschont, die Polizei kann einen auf der Straße aufgreifen“, sagt ein Ausländer. „Alle werden als ‚illegal’ betrachtet, besonders wenn sie sich an ‚Abreiseorten’ aufhalten: am Strand, auf einem Touristenboot im Meer oder bei einem Ausflug in der Wüste. Alle werden Opfer von Vorurteilen.“ Der Strand wird zur verbotenen Zone. Unter dem Vorwand, eine anonyme Anzeige wegen illegaler Migration erhalten zu haben, dringt die Polizei in Privatwohnungen ein, speziell die alleinstehender Frauen, denen man Prostitution vorwirft (Bordelle sind in Mauretanien verboten). Die Polizisten kassieren Geldbußen und drohen mit Gefängnis. Wenn die Frauen nicht zahlen, können sie verhaftet oder über die Grenze nach Senegal oder Mali abgeschoben werden.
Nouadhibou ist auch eine Grenzstadt. Jenseits liegt der von Marokko besetzte Teil der Westsahara, wo eine Befreiungsbewegung einen eigene Staat anstrebt; das Niemandsland zwischen beiden Ländern ist noch immer vermint. „Es kommt vor, dass Migranten in die Wüste abgeschoben werden und weder nach Mauretanien noch nach Marokko hinein können“, sagt der Ausländer in Nouadhibou. Maßnahmen gegen die für illegal erklärte Migration bieten der Polizei häufig Gelegenheit zur Erpressung.
Karitative Organisationen, die Kirche, NGOs und Migrantenorganisationen versuchen, dem entgegenzutreten. Einige NGOs werden von der EU finanziert, um Flüchtlinge aufzunehmen. Denen, die in Mauretanien bleiben wollen, bieten sie drei- bis sechsmonatige Kurse an in Nähen, Informatik sowie Fischverarbeitung und geben Kleinkredite. Christliche Gruppen, die eigentlich nicht ihre Aufgabe darin sehen, sich um ausgewiesene Ausländer zu kümmern, haben ein Netz gebildet, Migranten für bis zu drei Tagen aufzunehmen. Die Kirche birgt oft Leichen und beerdigt sie. Gelegentlich finanziert sie eine Rückreise oder ärztliche Hilfe, es werden Sprechstunden für Migranten gehalten. Die Kirchen werden aber oft der Missionierung bezichtigt und an dieser Art Hilfe gehindert.
Die Migranten integrieren sich in Viertel, wo schwarze Mauretanier und Ausländer in nach Herkunftsorten, Berufen oder Religionen getrennten Gemeinschaften organisiert sind. Jede hat einen Repräsentanten, der Alltagsprobleme lösen, Informationen verbreiten und Angehörige der eigenen Gemeinschaft aufnehmen soll, bis sie wieder auf die Beine kommen. Man findet dort auch Migranten, die festgenommen, ins Sammellager verbracht und wieder freigelassen worden sind, Ausgewiesene oder Menschen, die Europa abgewiesen hat und die nicht in ihr Heimatland geschickt wurden, sondern dahin, „wo sie herkamen“. Migranten bestätigen das – etwa der junge Ghanaer, der aus Spanien mit seinem Bruder nach Nouakchott geflogen wurde, dann mit dem Bus zur senegalesischen Grenze und per Fähre hinüber gebracht. Dort wurden sie ausgesetzt mit fünfzig Euro in der Tasche, die ihnen dann die Polizei abnahm. Die Gescheiterten, Wartenden oder Abgeschobenen vergrößern die Reihen der Arbeitsmigranten. Wie andere Arbeitsuchende finden sie sich jeden Morgen an festgelegten Plätzen in Nouadhibou ein, wo mögliche Arbeitgeber sie vielleicht abholen. Frauen bieten an, im Haushalt zu helfen oder Wäsche zu waschen; Männer offerieren ihre Arbeitskraft als Träger, Hafenarbeiter oder für Gelegenheitsarbeiten. Sie werden im Akkord entlohnt. Junge Ausländer gehen häufig von Haus zu Haus, um ihre Dienste anzubieten. Für 300 bis 500 Ouguiyas (1 bis 1,70 Euro) kehren und wischen sie Böden oder waschen ab. Sie haben besonders große Angst vor Kontrollen. Viele versuchen als Händler zu überleben und verkaufen Waren, die sie auf Kredit erworben haben.
Angst vor Fremden wird genährt
Obwohl die Lage auf dem mauretanischen Arbeitsmarkt düster ist, braucht das Land ausländische Arbeitskräfte: „Migranten sind nützlich für den Markt und der Staat ist sich des Entwicklungspotentials bewusst, das sie darstellen“, sagt ein Ministerialbeamter. Die Behörden bedauern, dass sich die Migrationspolitik auf Repression beschränkt und eine Regulierung gemäß den Erfordernissen des Arbeitsmarkts nicht in Betracht gezogen wird. Die neue, aus dem Putsch hervorgegangene Regierung versucht, sich mit populistischen Maßnahmen Akzeptanz zu verschaffen, insbesondere Einheimische in festgelegten Bereichen zu bevorzugen und dafür Ausländer vom Arbeitsmarkt auszuschließen. Doch da die Ausländer oft besser ausgebildet sind als die Einheimischen oder besser Französisch können, finden sie eher Arbeit.
Staatliche Eingriffe – auch auf Druck aus Europa –, die die Lage von Migranten noch verschlimmern und ihre Ausbeutung verschärfen, gefährden das fragile Gleichgewicht des Zusammenlebens in den Städten an den Wanderungsrouten. Das Vorurteil, alle Schwarzen seien Illegale, und das von den Medien häufig verbreitete Bild von Migranten stigmatisieren sie. Die Ängste der Einheimischen werden so genährt und Ablehnung erzeugt: Ein Ausländer gilt als „jemand, der auf Abenteuer aus ist“, und alle abwertenden Vorstellungen von Abenteurern, Kriminellen und Überträgern aller möglichen Krankheiten werden auf ihn projiziert. So droht sich die bisher eher günstige Wahrnehmung von Ausländern in Mauretanien in eine Stigmatisierung zu verwandeln. Das kann Spannungen zwischen den Gemeinschaften wiederaufleben lassen und in Gewalt münden. Aus dem Französischen von Christian Neven-Du Mont.
Laurence Marfaing ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Forschungsprojekt „Überlebensstrategien von Migranten in Transitstädten in Mali und Mauretanien“ am Leibniz-Institut für Globale und Regionale Studien (GIGA) in Hamburg.
Pufferzone für Europa
Die Europäische Union (EU) hat die Abwehrmaßnahmen gegen Migranten an ihren Außengrenzen verschärft und eine Pufferzone zwischen Europa und Afrika geschaffen. Mauretanien, Marokko, Tunesien, Senegal, Mali und später auch Algerien und Libyen wurden zu „Transitländern“ erklärt. Sie haben sich verpflichtet, als Gegenleistung für Entwicklungshilfe ihre Grenzen mit logistischer und finanzieller Hilfe aus Europa zu kontrollieren, illegale Migration zu bekämpfen und Migranten, die illegal nach Europa gelangen wollten, zurückzunehmen. Für die operationelle Zusammenarbeit an ihren Außengrenzen hat die EU 2005 die Agentur Frontex geschaffen. Sie verfügte 2008 über 70 Millionen Euro und hilft unter anderem den „Transitländern“, die illegale Migration in West- und Nordafrika sowie auf dem Meer zu kontrollieren. Frontex bietet auch Ausbildung für Grenzwächter an. Seit 2006 operieren 57 Schnellboote und Hubschrauber an den Küsten Senegals und Mauretaniens.
(LM)