Zwei Wege der Islamisierung

In Indonesien wie in Malaysia wächst der Einfluss des Islam, doch die Triebkräfte dafür sind sehr unterschiedlich

Von Andreas Ufen

Die Bedeutung islamischer Gelehrter, Organisationen, Lehren und Symbole wächst. Eine zunehmende Islamisierung ist nicht nur im arabischen Raum zu beobachten, sondern auch in Südostasien, an der Peripherie der islamischen Welt. Dabei vollziehen sich in Malaysia und Indonesien, die mehrheitlich muslimisch sind, seit einigen Jahren sehr widersprüchliche Entwicklungen.

Große Teile von Südostasien waren über viele Jahrhunderte hinduistisch und buddhistisch geprägt und wurden erst im 14. und 15. Jahrhundert islamisiert. Die Kolonialherren in Britisch-Malaya beziehungsweise Niederländisch-Indien (dem heutigen Indonesien) setzten im 18. und 19. Jahrhundert westliche Verwaltungsstrukturen und Rechtssysteme durch. Die nationalistischen Bewegungen in den beiden ethnisch und religiös heterogenen Kolonien mussten frühzeitig Kompromisse finden, um die starken Minderheiten an der Nationenbildung zu beteiligen.

Indonesien war nach einer demokratischen Phase (1949-57) und der „gelenkten Demokratie“ unter Präsident Sukarno (1957-65) während der „Neuen Ordnung“ (1965/66-98) ein autoritäres und westlich orientiertes Modernisierungsregime. Es stützte sich vorrangig auf das Militär und wurde von Präsident Haji Mohamed Suharto beherrscht. Erst nach seinem Sturz auf dem Höhepunkt der Asienkrise wurden im Mai 1998 umfassende Reformen eingeleitet. Heute ist das Land eine Demokratie mit im Wesentlichen freien und fairen Wahlen, einem Mehrparteiensystem und einer lebhaften Presse. Seit der Unabhängigkeit 1945 werden mit der in der Verfassung verankerten „Staatsphilosophie“ der Pancasila („Fünf Säulen“) mehrere als monotheistisch definierte Religionen als gleichberechtigt anerkannt. Das sind jetzt neben dem Islam der Protestantismus, der Katholizismus, der Buddhismus, der Hinduismus und seit Anfang 2007 der Konfuzianismus.

Malaysia befindet sich seit der staatlichen Unabhängigkeit 1957 in einer Mittelposition zwischen Autoritarismus und Demokratie. Die regierende Elitenkoalition von Malaien, Chinesen und Indern wird unangefochten von der United Malays National Organization (UMNO) angeführt. Sie steht an der Spitze der „Allianz“ (seit 1971 der „Nationalen Front“) und konnte mit diesem Bündnis alle nationalen Wahlen gewinnen. In Malaysia erklärte man bei der Unabhängigkeit den sunnitischen Islam zur Staatsreligion. Abweichende Lehren, etwa der schiitische Islam und einzelne islamische Sekten, wurden verboten, davon abgesehen wurde aber die Religionsfreiheit anerkannt. Da der Volksgruppe der Malaien verfassungsrechtlich eine Sonderstellung gewährt wird und sie von Geburt an automatisch Muslime sind, fühlten sich die ethnischen und religiösen Minderheiten in vielfacher Hinsicht als Staatsbürger zweiter Klasse.

Die Islamisierung verläuft in beiden Ländern sehr unterschiedlich. Zum besseren Verständnis sollen drei Handlungsräume mit je eigener Logik unterschieden werden: der Staat, die politische Gesellschaft (das Parteiensystem) und die Zivilgesellschaft, die durchaus gewaltbereite Gruppierungen einschließen kann.

In Indonesien reicht das Spektrum islamischer Gruppierungen von sehr liberalen Kräften bis zu Terrorgruppen. Die großen politischen Parteien sind aber säkular oder in religiösen Fragen gemäßigt; letzteres gilt auch für die beiden sehr einflussreichen islamischen Massenorganisationen Nahdatul Ulama und Muhammadiyah mit rund 40 beziehungsweise 35 Millionen Anhängern. Die vier Präsidenten seit dem Sturz Suhartos 1998 – B.J. Habibie, Abdurrahman Wahid, Megawati Sukarnoputri und Susilo Bambang Yudhoyono – gelten alle nicht als Anhänger eines dogmatisch und engstirnig interpretierten Islams.

Allerdings wurden in einigen Distrikten des Landes Verordnungen erlassen, die sich an der Scharia orientieren; sie verbieten Prostitution, Alkoholkonsum und Glücksspiel oder schreiben bestimmte Kleidungsformen und Verhaltensweisen insbesondere für Frauen vor. In der Provinz Aceh auf der Insel Sumatra wurde 2009 sogar das islamische Strafrecht eingeführt, das unter anderem die Steinigung bei Ehebruch vorsieht. Für Schlagzeilen sorgten das Pornografie-Gesetz (2008), das hohe Strafen für vage definierte „pornografische“ Darstellungen und Handlungen vorsieht, sowie Angriffe auf Gebäude der Ahmadiyah-Sekte, auf das „Netzwerk Liberaler Muslime“ und auf angeblich illegal errichtete Kirchen. Vermehrt erzwangen radikale islamische Organisationen wie Front Pembela Islam, Hizbut Tahrir und Jama’ah Tabligh die Schließung von Kirchen. Die radikalsten islamistischen Gruppierungen verübten mehrfach Terroranschläge, etwa auf Bali 2002 und 2005 und zuletzt im Juli 2009 in Jakarta.

Auch in Malaysia haben sich in den vergangenen Jahren die Auseinandersetzungen zwischen den religiösen Gruppen verschärft. Anfang dieses Jahres kam es mehrfach zu kleineren Brandanschlägen auf christliche Kirchen, nachdem in einem heftig kritisierten Gerichtsurteil entschieden worden war, dass ein katholisches Wochenblatt den Ausdruck „Allah“ als Übersetzung für „Gott“ benutzen dürfe. Konservative Muslime setzen alles daran, ihre Moralvorstellungen durchzusetzen. So sind im Februar drei Frauen wegen unehelichem Sex mit Stockhieben bestraft worden – erstmals in der Geschichte des Landes. Spitzenpolitiker wie die letzten drei Premierminister Mahathir, Badawi und Najib bezeichneten Malaysia provokant als „Islamstaat“. Doch noch herrscht ein Grundkonsens der regierenden Eliten vor, der auf einem moderierenden Ausgleich der religiösen Gruppen basiert. In Malaysia wurde die Islamisierung – anders als in Indonesien – weitgehend vom Staat kontrolliert und gesteuert. Insbesondere Premierminister Mahathir leitete nach seinem Amtsantritt 1981 eine umfassende, konservative Islamisierungspolitik ein. Er nutzte sie, um eine neue Wirtschafts­ethik zu propagieren. Sie diente außerdem dazu, eine strenge öffentliche Moral zu verbreiten und das Privatleben der Muslime besser zu kontrollieren.

Die indirekte Verknüpfung von Religion und Ethnizität und die Aufwertung des Islam im Vergleich zu den anderen Religionen stärkte die Machtposition der UMNO und der staatlichen Verwaltung. Die Berufung auf einen konservativ interpretierten Islam machte es ferner möglich, dem „westlichen“ Diskurs zu Demokratie- und Menschenrechtsfragen entgegenzutreten. Beispiele für diese Politik sind die Schaffung einer internationalen islamischen Universität, eines islamischen Banken- und Versicherungssystems, der Ausbau und die Zentralisierung der religiösen Bürokratie und die Aufwertung der Scharia-Gerichte. Der Höhepunkt war die für Angehörige religiöser Minderheiten und für viele liberale Muslime schockierende Erklärung Mahathirs im Jahr 2001, kurz nach den Anschlägen von New York, dass Malaysia ein islamischer Staat sei.

In Indonesien ergibt sich ein anderes Bild. Der Staat spielte eine weniger prominente Rolle bei der Steuerung der Islamisierung. Das gilt sowohl für die jetzige Demokratie als auch für ihre Vorgängerregimes. In der ersten parlamentarischen Demokratie bis 1957 wurde eine religiöse Bürokratie erst aufgebaut. Die wesentlichen Konflikte zwischen Säkularisten und Islamisten spielten sich in der politischen Gesellschaft ab, die Zivilgesellschaft war noch schwach. Bis etwa Anfang der 1980er Jahre unterdrückten Sukarno und Suharto weitgehend den politischen Islam. Sukarno verbot 1960 die gemäßigte modernistisch-islamische Partei Masyumi; Muslime waren in seiner Regierung an den Rand gedrängt.

Ähnliches galt lange für die Zeit der „Neuen Ordnung“, in der die mächtigsten Generäle und Geschäftsleute sowie viele Berater Suhartos keine orthodoxen Muslime waren. Erst seit Mitte der 1980er Jahre versuchte das Regime, religiöse Führer und Teile der neuen muslimischen Mittelschichten stärker einzubinden, um zusätzliche Unterstützer zu bekommen. Suharto und viele seiner engsten Vertrauten betonten zunehmend ihre Frömmigkeit und sorgten für den Aufstieg orthodoxer Muslime in der Regierungspartei Golkar, den Streitkräften und der Bürokratie. Die facettenreiche Islamisierung seit 1998 ist nicht das Ergebnis einer raffinierten Kontrollpolitik rational planender Eliten. Vielmehr treffen unterschiedliche Faktionen der zentralen und regionalen Eliten sowie einer Reihe von islamischen, zuweilen islamistischen Gruppierungen und Organisationen ungeregelt aufeinander. Die Politisierung des Islams geschah vor allem außerhalb des Staates und der politischen Gesellschaft. Ein auffälliger Unterschied zwischen Indonesien und Malaysia besteht darin, in welchem Ausmaß der Islam innerhalb des Parteiensystems für politische Ziele eingesetzt wird. In Indonesien unterbinden vielfach sich kreuzende Konfliktlinien eine stärkere Politisierung religiöser Themen im Wettbewerb der Parteien. Im Gegensatz zu Malaysia ist das indonesische Parteiensystem nicht in zwei Lager gespalten. Seit 1999 regieren große Koalitionen, Lager bildeten sich nur bei wenigen politischen Entscheidungen.

In Malaysia unterblieb unter anderem aufgrund des Mehrheitswahlsystems eine Zersplitterung islamischer Parteien wie in Indonesien. Die islamistische PAS kann deshalb einen Alleinvertretungsanspruch formulieren. Sie kann aufgrund der Vorherrschaft der UMNO die Einführung des islamischen Strafrechtes und die Schaffung eines Islamstaates fordern, ohne dieses utopische Programm jemals realisieren zu müssen. Die starke Polarisierung im Wettbewerb der Parteien fördert zudem die Tendenz zur Radikalisierung. Die PAS zwingt so die UMNO zur Politisierung der Religion. Die Islamisierung durch die UMNO dient dann auch der Abgrenzung der (muslimischen) Malaien gegenüber den anderen Ethnien.

Im indonesischen Parlament unterstützt bisher nur eine Minderheit die Wiedereinführung der 1945 kurzzeitig in die Verfassung aufgenommene sogenannten Jakarta-Charta, die eine weitreichende Durchsetzung des islamischen Rechtes nach sich ziehen würde. Zwar sind zahlreiche neue islamische und islamistische Parteien entstanden und der Konflikt zwischen Säkularisten und politischem Islam hat das neu entstehende Parteiensystem von Anfang an geprägt. Aber die Versuche zwischen 1999 und 2002, die Jakarta-Charta in die Verfassung einzufügen, sind gescheitert. Die Pancasila, die eine weitreichende Religionsfreiheit garantiert, blieb unangetastet, und große, de facto islamische Parteien definieren sich selbst sogar als säkular.

Die Zivilgesellschaften der beiden Länder tragen in unterschiedlicher Form und Intensität zur Islamisierung und zum Vordringen des Islamismus bei. In Malaysia ist es bisher nicht zu Terroranschlägen gekommen, es gibt keine islamistischen Milizen. Der Staat ist in der Lage, radikale Gruppierungen schon im Keim zu ersticken, weil seine Sicherheitskräfte von der Politik kontrolliert werden und das Gewaltmonopol durchgesetzt wird. Hinzu kommen Elemente des interethnischen und interreligiösen Ausgleichs etwa in der Mehrparteien-Regierungskoalition „Nationale Front“. So muss die UMNO darauf achten, die größtenteils nicht-muslimischen und nicht-malaiischen Koalitionspartner nicht zu verprellen. Außerdem dürfte die PAS einen erheblichen Teil der oppositionellen islamistischen Kräfte in die Bahnen von Wahlen lenken.

Die politische Kontrolle allein erklärt die Eindämmung eines radikalen Islamismus in Malaysia aber nur unzureichend. Wichtig ist außerdem eine erfolgreiche Wirtschaftspolitik, die hohe Wachstumsraten bewirkt hat und mit einer staatlich gelenkten Umverteilung zugunsten der Bumiputera („Söhne der Erde“, das sind im Wesentlichen die Malaien) verbunden war. Mit Hilfe dieser Politik, die den meisten Muslimen zugute kam, wurde beispielsweise die konservativ-islamische dakwah-Bewegung Anfang der 1970er Jahre entscheidend geschwächt und die Gefahr einer Radikalisierung eingedämmt. Hinzu kommt die staatliche Islamisierungspolitik, die mit der Aufnahme wichtiger islamischer Führer in die Regierung, mit dem Aufbau einer religiösen Bürokratie sowie mit der systematischen Besetzung wichtiger Begriffe mit Hilfe des Medienapparates und des Bildungssystems die Interpretation eines zwar konservativen, aber dennoch moderaten Islam durchgesetzt hat.

In Indonesien dagegen wurden islamistische Bewegungen in der „Neuen Ordnung“ vor allem mit Hilfe von Repressionen in Schach gehalten. Nach 1998 verlor der Staat aber einen Teil seiner Kontrollmacht. Mit dem Ende des Suharto-Regimes und auf dem Höhepunkt der Asienkrise verschärften sich einige soziale Konflikte. Die Machtverteilung zwischen Zentrum und Peripherie, Stadt und Land, Kapital und Arbeit sowie zwischen ethnischen und religiösen Gruppen musste neu ausgehandelt werden. Das führte zur Mobilisierung islamistischer Kräfte durch zahlreiche neue Organisationen.

Zum Teil wurden auch ethnische (Kalimantan) oder religiöse Identitäten (Molukken) derart politisiert, dass es zu jahrelangen gewaltsamen Auseinandersetzungen kam. Im Zuge der Asienkrise, die Indonesien besonders stark traf, verstärkten sich Massenarmut und Massenarbeitslosigkeit. Damit entstanden eine Reihe benachteiligter Bevölkerungsgruppen, die von radikalen Bewegungen politisch mobilisiert werden konnten. Die verschiedenen Formen islamistischer Mobilisierung in der indonesischen Zivilgesellschaft stehen in einem auffallenden Gegensatz zur Zurückhaltung der islamischen politischen Parteien und zur moderaten staatlichen Religionspolitik. Insgesamt wird in Malaysia die Islamisierung eher vom Staat und den Parteien gesteuert, während in Indonesien die Zivilgesellschaft meist die wichtigsten Impulse gibt.

Wie sich die Islamisierung in den beiden Ländern fortsetzen wird, ist sehr schwer einzuschätzen. In Malaysia könnte der Durchbruch zur Demokratie, der mittelfristig durchaus möglich ist, zu einer Pluralisierung des Islam führen und den parteipolitischen Islamismus mäßigen. In Indonesien ist eine Zügelung islamistischer Kräfte von der Vertiefung der noch oberflächlichen Demokratisierung, also etwa von einer effektiven Durchsetzung des Gewaltmonopols und von einer Brechung des Kartells aus Bürokraten, Wirtschaftsbossen und Berufspolitikern abhängig.

Andreas Ufen ist Politologe und wissenschaftlicher Referent am GIGA Institut für Asien-Studien in Hamburg. Er forscht unter anderem zu Indonesien und Malaysia

erschienen in Ausgabe 8 / 2010: Metropolen: Magnet und Molloch
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