Angst vor dem Ansturm der Armen

Haiti und die Dominikanische Republik teilen sich die Karibik-Insel Hispaniola. Doch gute Nachbarn sind sie nicht. Die Ursachen für das gegenseitige Misstrauen reichen bis in die Kolonialzeit zurück.

Die Sonne ist gerade aufgegangen. Das knietiefe Wasser des Río Masacre glitzert silbern in der Morgendämmerung. „Jetzt kommen die ersten Illegalen“, sagt Juan, der seinen Nachnamen nicht nennen will, von der dominikanischen Grenzwache „Cuerpo Especializado en Seguridad Fronteriza“ (Cesfront).

Nach wenigen Minuten stehen mehr als drei Dutzend Haitianer mit nassen Beinen vor dem provisorischen Schlagbaum am Ufer des Flusses. Einige haben leere Säcke unter den Arm geklemmt, zwei Frauen balancieren verbeulte Aluminiumschüsseln mit Grapefruit und Brötchen auf dem Kopf. Mit dem Gewehrkolben hält Juan die Grenzgänger davon ab, schon vor acht Uhr auf den Markt zu eilen. Keine 100 Meter Luftlinie entfernt drängen sich derweil Hunderte dicht an dicht auf der Internationalen Brücke, dem offiziellen Übergang zwischen Haiti und der Dominikanischen Republik.

Autor

Hans-Ulrich Dillmann

ist freier Journalist in Santo Domingo und berichtet für mehrere deutschsprachige Medien über die Karibik und Zentralamerika.
Zwei Mal in der Woche – montags und freitags – findet in der nördlichen dominikanischen Grenzstadt Dajabón ein binationaler Markt statt. Dort ist alles zu kaufen, was der haitianische Konsument zum täglichen Leben braucht. „Hier ist alles viel billiger“, sagt die Marktfrau Solange Dolis. Sie kauft Öl, das sie dann in kleinen Mengen im haitianischen Ouanaminthe an ihre Nachbarin weiterverkauft. Die Kleinhändlerin bestreitet damit ihren Lebensunterhalt. „Was soll ich machen? Arbeit gibt es keine. Mein Mann ist Tagelöhner in der Dominikanischen Republik auf dem Bau.“

In Ouanaminthe, das ebenfalls dicht an der Grenze liegt, hat zwar jetzt sogar ein modernes Hotel eröffnet. Aber einkaufen muss man im Nachbarland, um halbwegs preiswerte Grundnahrungsmittel zu bekommen. Die haitianische Hauptstadt Port-au-Prince mit ihren Großhändlern ist für die Menschen im Norden des Landes fast eine Tagesreise entfernt. „Die binationalen Märkte sind für viele die einzige Möglichkeit, sich mit Lebensmitteln zu versorgen“, sagt Pater Regino Martínez. Der Jesuit kennt die Grenzregion wie seine Westentasche und ist Mitgründer der Fundación Solidaridad Fronteriza, der „Stiftung Grenzsolidarität“.

Für die, die in ihrer Nähe leben, spiele die rund 360 Kilometer lange Grenze zwischen Haiti und der Dominikanischen Republik de facto keine große Rolle. „In den Köpfen der Menschen existiert diese Grenze nicht, das war schon immer so. Die Menschen leben mal hier und mal dort“, versichert Martínez. Paare achteten nicht darauf, ob der Partner westlich oder östlich der Landesgrenze geboren wurde. Nur die Nationalisten versuchten, eine künstliche Trennung zwischen den beiden Ländern zu schaffen, beklagt der Pater – hier die reichen Dominikaner, dort die armen Haitianer.

Die Trennung der Insel in zwei kulturell unterschiedliche Teile gründet sich in der Konquista vor mehr als 500 Jahren. Nachdem sich im 16. Jahrhundert die spanischen Eroberer unter Christoph Kolumbus vornehmlich im Süden und Osten der Quisqueya, „Mutter Erde“, genannten Insel etabliert hatten, übernahmen im Nordwesten im 17. Jahrhundert mehr und mehr rebellische Ureinwohner, französische Piraten und entflohene afrikanische Sklaven das Regiment. Während der Osten hispanisch geprägt wurde, dominierte im hügeligen und unwegsamen westlichen Inselteil – Haiti oder Ayití heißt in der Arawak-Sprache „Land der Berge“ – bald das Frankophone. Später verloren die Spanier zeitweise komplett die Herrschaft über ihre erste Kolonie in der „Neuen Welt“ an die Franzosen.

Haiti entwickelte sich zur reichsten Kolonie Frankreichs

Haiti entwickelte sich mit seinen endlosen Zuckerrohrfeldern zur reichsten Kolonie Frankreichs. Mit den Sklavenaufständen seit 1791 verlor die „Perle der Antillen“ aber ihre politische und wirtschaftliche Bedeutung, denn die Rebellen zerstörten in ihrer Rage alles und beraubten sich damit selbst einer ökonomischen Basis. Reparationszahlungen in Milliardenhöhe an Frankreich taten ein Übriges, dass sich das Land wirtschaftlich nicht mehr erholte.

Die Gründung des ersten freien Staates in Lateinamerika am 1. Januar 1804 ging außerdem damit einher, dass das neugegründete haitianische Heer auch im Osten der Insel die Macht übernahm, ohne die Interessen der dortigen Bevölkerung zu berücksichtigen. „Alle haben das als Besatzung empfunden, nicht als Befreiung. Das hat sich als Schmach in das historische Bewusstsein der Bevölkerung, aber vor allem der hispanischen Intellektuellen eingebrannt“, sagt José Israel Cuello, ein dominikanischer Fernsehkommentator, der das Verhältnis der beiden Nationen untersucht hat.###Seite2###

„Während sich Haiti von den kolonialen Fesseln befreite, konstituierte sich die Dominikanische Republik im Kampf gegen Haiti.“ Am 27. Februar 1844 wurde auf der Plaza de la Independencia in Santo Domingo die Unabhängigkeit von Haiti ausgerufen, aber 1861 unterstellten sich die Dominikaner wieder der spanischen Herrschaft, „aus Angst vor einer erneuten Invasion aus Haiti“. Erst 1865 wurde die Dominikanische Republik, die zwei Drittel der zweitgrößten Antilleninsel Hispaniola einnimmt, endgültig unabhängig.

Seitdem herrscht zwischen den beiden Ländern, die bei ihrer unterschiedlichen Größe fast dieselbe Einwohnerzahl von etwa zehn Millionen haben, Misstrauen – vor allem auf dominikanischer Seite. Obwohl mehr als achtzig Prozent der Bevölkerung Vorfahren aus Afrika haben, zieht es die Mehrheit vor, ihre Hautfarbe als braun zu beschreiben und sich dabei auf Ahnen von der spanischen Halbinsel zu berufen. Die dunkle Hautpigmentierung gilt als hässlich. „Negro“ wie die westlichen Nachbarn möchte niemand sein, denn dies verkörpere Armut, Marginalisierung – und ihre afrikanische Herkunft, erklärt Cuello.

Die staatliche Trennungslinie zieht sich vor allem durch bergiges, schwer zu kontrollierendes Gebiet. Sie ist seit Jahrzehnten Verbindungsglied und Zankapfel zugleich. In den 1930er Jahren eskalierte der Streit zwischen den beiden unterschiedlichen Nationen, deren einer Teil Spanisch spricht, der andere ein afrikanisch-französisches Idiom, das Kreyòl. Der dominikanische Diktator Rafael Leónidas Trujillo Molina, dessen Urgroßeltern selbst aus Haiti eingewandert waren, ordnete 1937 die „Dominikanisierung der Grenzregion“ an. Bei dem staatlich angeordneten Massaker im Nordwesten des Landes starben mindestens 17.000 Haitianerinnen und Haitianer.

Der Massenmord hinderte den „Wohltäter des Landes“, so musste Trujillo offiziell tituliert werden, nicht daran, kurze Zeit danach mit der haitianischen Regierung ein Abkommen über den Einsatz von haitianischen Erntearbeitern auf den Zuckerrohrfeldern zu vereinbaren. Die „Braceros“ wurden in Hunderten von Wohnlagern fernab und isoliert von den dörflichen Strukturen des Landes untergebracht. Noch heute leben zahlreiche der Nachkommen der wesentlich dunkelhäutigeren Haitianer in diesen Ghettos, in vielen gibt es nur selten am Tag Strom, Wasser muss aus Gemeinschaftsbrunnen geholt werden.

Inzwischen arbeiten viele Haitianer auch in der Landwirtschaft und auf dem Bau. Ohne sie würden in der 3,5-Millionen-Metropole Santo Domingo keine Hochhäuser mehr gebaut und auf den Straßen gäbe es keine frisch gepressten Fruchtsäfte. Billige Haushaltshilfen kommen aus dem westlichen Teil der Insel, sogar die naiven Malereien, die in den Touristenhochburgen als Reisemitbringsel aus der Dominikanischen Republik so beliebt sind, stammen von haitianischen Malern.

Trotzdem klagen viele in der Dominikanischen Republik über die Fremden aus dem Nachbarland. „Die nehmen uns die Arbeitsplätze weg, bringen Krankheiten und überfluten das Land“, regt sich Marino Vinicio Castillo auf, der Vorsitzende der Nationalen Fortschrittskraft (FNP). Der 83-Jährige ist einer der engsten Alliierten der regierenden Partei der dominikanischen Befreiung (PLD) und Vorsitzender der Kommission „Ethik und Regierungsintegrität“, die Staatspräsident Danilo Medina berät. „Niemand will Haiti helfen, aber wir sollen die Bürde ihrer Armut tragen“, sagt „Vincho“, so der Spitzname von Castillo, der schon Trujillo als Parlamentarier und Sprachrohr diente.

In den vergangenen Jahrzehnten hat sich die wirtschaftliche Lage der beiden Länder immer weiter auseinander entwickelt. In den 1960er Jahren war das Bruttoinlandsprodukt (BIP) der beiden Inselrepubliken laut Weltbank noch fast gleich. Aber seitdem hat sich das Pro-Kopf-Einkommen im Osten vervierfacht, im Westen dagegen verdienen die Menschen heute weniger als früher. In Haiti müssen vier Fünftel der Bevölkerung am Rande der Armut mit kaum zwei US-Dollar täglich auskommen. Auf der anderen Seite der Grenze ist es nur rund ein Drittel.###Seite3###

Die Dominikaner verfügen durchschnittlich über ein Monatseinkommen von umgerechnet rund 610 Euro, die Haitianer gerade einmal über 75 Euro. Haiti, das Armenhaus Lateinamerikas, ist ökonomisch von seinem Nachbarn abhängig. Von dort bezieht das Land den Großteil seiner Importe, es ist nach den USA der zweitgrößte Exportmarkt der Dominikanischen Republik. Die dominikanische Textilindustrie nutzt die Quoten für zollfreie haitianische Exporte in die USA und lässt auf der anderen Seite der Grenze produzieren.

Über die Grenze werden vornehmlich in Ost-West-Richtung, Richtung Haiti, Waren umgesetzt. Im Jahr 2011 hatten sie einen Wert von rund einer Million US-Dollar. Dem steht auf haitianischer Seite kaum etwas entgegen. „Das einzige Exportgut, das Haiti besitzt, sind seine Arbeitsmigranten“, urteilt der kubanische Soziologe Haroldo Dilla Alfonso.

Nach dem verheerenden Erdbeben im Januar 2010 in Haiti leistete die dominikanische Regierung zwar zügig und vorbildlich Hilfe. Aber seitdem bauen vor allem dominikanische Unternehmen Infrastruktur und Gebäude in Haiti wieder auf – sehr zum Ärger finanzkräftiger Investoren in Haiti, die auch gerne von dem Millionengeschäft profitieren wollen. Die haitianische Regierung reagiert mit einer Politik der Nadelstiche. Mal wurde aus „Umweltschutzgründen“ die Einfuhr von plastikverpackten Wasserbeuteln verboten, dann wurde der Import von Hühnerfleisch untersagt, weil die Schweinegrippe im Osten grassierte.

Dafür blieben auf dominikanischer Seite einmal die Grenztore für den multinationalen Wochenmarkt geschlossen, an anderen Tagen wurden nur Personen mit Ausweispapieren eingelassen. Im Gegenzug schickte die Stadtverwaltung des nördlichen Grenzübergangs Ouanaminthe auf haitianischer Seite Bauarbeiter, um eine Steinmauer gegen den illegalen Grenzverkehr am Zoll vorbei zu errichten.

Auch „Vincho“ Castillo von der rechtsgerichteten FNP will eine Mauer bauen lassen – aber auf der anderen Seite der Grenze, um den „Reichtum der Dominikaner“ vor den armen Nachbarn zu schützen. Sein Sohn, Vinicio Castillo Semán, erst seit kurzem Parlamentarier für die FNP, hat einen Gesetzesentwurf eingebracht, um einen 360 Kilometer langen Betonwall zwischen den beiden Ländern zu errichten. „Niemand regt sich furchtbar auf, nur weil die USA und Spanien Grenzmauern bauen“, rechtfertigt er sich gegen Kritik im eigenen Land.

Erst der Druck des venezolanischen Staatspräsidenten Nicolás Maduro brachte die beiden Regierungen, die beide vom billigen Öl des lateinamerikanischen Nachbarn profitieren, wenigstens an den Verhandlungstisch. Eine bilaterale Kommission diskutiert seit Monaten über strittige Fragen. Selbst das ist FNP-Parteichef Castillo zu viel: Er fordert den Abbruch der Gespräche. Denn „reiche und mächtige Staaten“, so orakelte er, wollten beide Länder vereinigen und der Dominikanischen Republik das „soziale Elend“ des Nachbarn aufladen. „Und wir sollen unsere staatliche Unabhängigkeit verlieren.“

Während „Vincho“ den Hass predigt, greifen in manchen Gegenden dominikanische Bürger zur Gewalt. Immer wieder enden kleine Alltagskonflikte, Streit und Diebstähle in Zusammenstößen zwischen Dominikanern und Haitianern. Im Dezember vergangenen Jahres starb Coito Pie in Neiba, im Südwesten des Landes. Der 25-jährige Haitianer wurde totgeschlagen und angezündet, weil Landsleute von ihm zwei alte Leute umgebracht hatten, um einen Sack Kaffee zu stehlen. Pie hatte nichts mit dem Fall zu tun. Er wurde lediglich Opfer der Nachbarschaftswut über das Verbrechen.

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erschienen in Ausgabe 8 / 2014: Gesichter der Karibik
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