Identität und Diskriminierung

Die Autoren berichten darüber, wie bestimmte gesellschaftliche Gruppen in Kirgisistan ihren Alltag bewältigen, der von Diskriminierung geprägt ist. Die Beiträge sind wegen ihres wissenschaftlichen Stils vor allem Fachleuten zu empfehlen.

Marc von Boemcken, Nina Bagdasarova, Aksana Ismail­bekova und Conrad Schetter (Hrsg.): Surviving Everyday Life. The Securityscapes of Threatened People in Kyrgyzstan. Bristol University Press, Bristol 2020, 228 Seiten, 28 Euro (E-Book) und  95 Euro (gebunden)
Wie schützen sich Menschen, die von der Gesellschaft diskriminiert werden, im Alltag vor Angriffen? Das internationale Forschungsteam um die Herausgeber dieses Sammelbandes beantwortet die Frage am Beispiel Kirgisistan anhand vieler Fallstudien. Dazu interviewten die Wissenschaftler Menschen, die aus unterschiedlichen Gründen diskriminiert werden: usbekische Geschäftsleute, queere Menschen und auch Frauen. 

Deutlich wird schon bald: Die meisten Menschen im LGBTQ-Spektrum zeigen ihre sexuelle Orientierung nicht öffentlich und wenden ein hohes Maß an Selbstkontrolle auf, um sich in der muslimisch geprägten Gesellschaft nicht angreifbar zu machen. Aber auch usbekische Geschäftsleute verschleiern ihre Identität, seitdem es im Jahr 2010 in Osh blutige Zusammenstöße zwischen der kirgisischen und usbekischen Bevölkerung gab. Die Konflikte, die bereits gegen Ende der sowjetischen Ära im Jahr 1990 aufflammten, eskalierten, als es 2010 zu einem Regierungsumsturz kam.  Seitdem spielen usbekische Geschäftsleute in ihren Cafés nur noch kirgisische Musik, schenken keinen Alkohol mehr aus und sprechen in der Öffentlichkeit nur noch kirgisisch. Viele Frauen wiederum versuchen, sich unsichtbar zu machen, um sexueller Belästigung im Alltag zu entgehen. Sie tragen formlose Kleidung, ändern ihre täglichen Laufwege, um gewisse Orte zu meiden, und nehmen Beschimpfungen widerspruchslos hin, um sich nicht noch angreifbarer zu machen.

Einige Menschen allerdings machen ihre Identität bekannt und versuchen, diese zu verteidigen. So gründen manche usbekischen Gemeinschaften private Kindergärten und Schulen, um ihre Kinder nach ihren Traditionen zu erziehen. Wer die eigene Identität zeigt, ist häufig auf die Unterstützung einer Gemeinschaft angewiesen. Frauen, die mit Partnern nicht kirgisischer Herkunft zusammen sind, werden von vielen nationalistisch denkenden Kirgisen bezichtigt, ihr kulturelles Erbe zu beschmutzen. Wollen sie ihre Liebe frei leben, sind sie darauf angewiesen, von Freunden und der Familie geschützt zu werden. Sie versuchen zum Beispiel, nur in Gruppen auszugehen, um verbalen und physischen Angriffen zu entgehen. Selbst Frauen, die ihre Partnerschaft nicht öffentlich machen, holen sich in Onlineforen Mut, in denen Frauen mit ähnlichen Geschichten zusammenfinden. 

Die Autoren zeigen, dass bei vielen Kirgisen die Loyalitäten infolge der langjährigen sowjetischen Unterdrückung immer noch stärker bei der eigenen Familie oder religiösen und ethnischen Gruppen liegen, als dass sie sich einer nationalen Gemeinschaft angehörig fühlen. Sie vertreten die These, dass nationalistisches Gedankengut genau deshalb an vielen Stellen extreme Formen annimmt. 

Als Leser erfährt man viel über das Land, seine patriarchale Struktur und die andauernden Probleme mit Korruption. Die Geschichten der einzelnen Menschen sind interessant und manchmal berührend. Trotzdem ist es ein wissenschaftliches Buch, gespickt mit vielen Fachbegriffen und auch mit reichlich Hinweisen zum Stand der Forschung in der Region und zu den Forschungsmethoden der Studien. Zu empfehlen ist die Lektüre daher allen, die selbst zu der Region oder zum Thema Minderheiten forschen oder sich ganz besonders dafür interessieren. Ihnen bietet das Werk spannende und tiefe Einblicke in die kirgisische Kultur. 

Marc von Boemcken, Nina Bagdasarova, Aksana Ismail­bekova und Conrad Schetter (Hrsg.): Surviving Everyday Life. The Securityscapes of Threatened People in Kyrgyzstan. Bristol University Press, Bristol 2020, 228 Seiten, 28 Euro (E-Book) und  95 Euro (gebunden)

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