Indien: Zum Lernen in den Keller

Neu-Delhi (epd). Dichtgedrängt in Reihen hinter- und nebeneinander sitzen die Studierenden an schmalen, blauen Schreibtischen, Trennwände zwischen ihnen, Hängeschränkchen über ihnen. Jede Nische hat ein Leselämpchen, denn in dem stickigen Kellerraum in der indischen Hauptstadt Neu-Delhi ist es düster. Knapp 40 junge Menschen haben sich die Arbeitsplätze hier gemietet. „Wir brauchen Orte, an denen wir in aller Ruhe lernen können“, sagt der 23-jährige Sandeep Yadav.

Die "Sanskar Library” ist eine von geschätzten 40 bis 50 Kellerbibliotheken im Stadtteil Ber Sarai, einem studentischen Zentrum im Südwesten der Stadt. Alle sind über Treppen ins Untergeschoss zu erreichen und mit biometrisch kontrollierten Eingangstüren versehen. Tausende solcher unterirdischer Lernräume, viele von ihnen illegal, soll es über die Stadt verteilt geben, etwa im Stadtteil Green Park oder um das staatliche Universitätsklinikum AIMS. Die Studierenden kommen aus dem ganzen Land und leben meist sehr beengt und in einfachen Verhältnissen.

„Nur Platz 10 und 37 sind momentan noch frei“, erklärt die junge Rezeptionistin, die gleich hinter der Eingangstür der „Sanskar Library“ sitzt. Ein Arbeitsplatz kostet pro Monat 1.400 Rupien, umgerechnet rund 15 Euro. Die Nummern stehen auf den Türen der Schränkchen über den Tischen. Die jungen Frauen und Männer, die in der Untergrundbibliothek sitzen, vermeiden den Augenkontakt und jedes Gespräch, und dafür gibt es einen guten Grund.

Ende Juli ertranken nach heftigen Monsun-Regen zwei Studentinnen und ein Student im Keller des renommierten Rau's IAS Coaching Zentrums im Stadtteil Old Rajinder Nagar. Das Ausbildungszentrum bereitet junge Menschen auf den Staatsdienst vor. Die Kellerbibliothek, in der sich 30 Studierende aufhielten, stand völlig unter Wasser. Einigen von ihnen gelang es, sich aus eigener Kraft aus den Wassermassen zu befreien. Andere konnten in einer achtstündigen Aktion von Feuerwehr, Polizei und Katastrophenschutz gerettet werden. Aber die 21-jährige Tanya Soni, der 28-jährige Nevin Delvin und die 25-jährige Shreya Yadav ertranken.

Das tragische Ereignis brachte die akuten Sicherheitsmängel vieler Lernkeller ins Bewusstsein der Öffentlichkeit. Tagelang demonstrierten Studentinnen und Studenten für die Entschädigung der Opfer-Familien, für eine Strafverfolgung der Verantwortlichen und bessere Studienbedingungen.

Sieben Verdächtige wurden verhaftet, darunter die Besitzer von Ausbildungszentrum und Lernkeller. Die nationalistische Hindu-Partei BJP beschuldigt nun die von der Anti-Korruptionspartei „Aam Admi“ geführte städtische Verwaltung, die Toten durch Nachlässigkeit verursacht zu haben. Die Behörden wiederum sehen die Verantwortung beim Besitzer des Ausbildungszentrums, zu dem die Kellerbibliothek gehörte. Der habe keinerlei Sicherheitsmaßnahmen getroffen.

Die Keller der Stadt dürfen offiziell nur zum Parken oder als Lagerräume genutzt werden. Eine anderweitige Verwendung muss durch die Stadtverwaltung genehmigt werden. Eine Genehmigung lag in diesem Fall aber nicht vor.

Die laufenden Untersuchungen wurden inzwischen von der Polizei an das Central Bureau of Investigation (CBI), eine ermittelnde Kriminalbehörde, übergeben. Zudem beschäftigt sich bereits das Oberste Gericht von Delhi mit dem Fall. Die Stadtverwaltung hat derweil eine Reihe von Lernkellern schließen lassen und geht nun verstärkt gegen sie vor.

Doch das Problem ist damit nicht vom Tisch: „Jede geschlossene Untergrundbibliothek verdoppelt die Preise für uns,” sagt Sandeep Yadav. Der Anthropologie-Student kommt jeden Tag am Rau's IAS Coaching Zentrum vorbei, das momentan mit Barrikaden und Polizeiaufgebot gesichert ist. Und sein Freund, Chandan Kumar, ein 22-jähriger Politikstudent, fügt hinzu: “Unsere Bildungsinfrastruktur ist völlig überlastet. Aber immerhin wollen sie jetzt ein Komitee bilden, das alle Beteiligten an den Verhandlungstisch holt und Lösungen sucht."

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