Berlin/Caracas - Erstmals nach Jahren des Boykotts beteiligt sich in Venezuela die Opposition an einer Wahl - und das weitgehend gemeinsam. Für die Regionalwahlen am Sonntag haben sich die größten Oppositionsparteien auf eine gemeinsame Liste geeinigt und Kandidatinnen und Kandidaten für 23 Gouverneursämter, 335 Bürgermeisterposten und mehr als 2.000 Regionalabgeordnete und Gemeinderäte aufgestellt.
Seit Jahren befinden sich Regierung und Opposition unversöhnlich gegenüber in einer politischen Blockade - während sich die gravierende wirtschaftliche und soziale Krise im südamerikanischen Land immer weiter verschlimmert. Die Entscheidung, sich wieder an den Wahlen zu beteiligen, war umstritten. Sie ist weniger ein Zeichen für eine Annäherung als für Pragmatismus. Denn nur mit Ämtern auf lokaler und regionaler Ebene kann die Opposition überhaupt noch politisch Einfluss nehmen. Die Opposition müsse eine „Koexistenz“ mit der regierenden sozialistischen Partei von Präsident Nicolás Maduro anstreben, anstatt zu versuchen, einen Regierungswechsel zu erzwingen, rechtfertigt Oppositionspolitiker Freddy Guevara den Kurs.
76 Prozent der Venezolaner gelten als extrem arm
Nachdem sie die Parlamentswahlen im Dezember 2020 als illegal ablehnte und boykottierte, verlor die Opposition ihre letzte politische Bastion. 2015 hatte sie in der Nationalversammlung bei den letzten freien Wahlen einen Erdrutschsieg mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit errungen. 2019 wählte sie ihren Präsidenten, den Oppositionspolitiker Juan Guaidó, zum Übergangspräsidenten.
Doch der versprochene politische Umschwung blieb aus. Das Militär als entscheidender Faktor hält weiter loyal zu Staatspräsident Maduro, der ohnehin alle Institutionen in Venezuela fest im Griff hat. Zudem ist die Opposition gespalten und uneins über das weitere Vorgehen. „Niemand hat gesagt, dass wir am 22. November ein Venezuela des Fortschritts und der Hoffnung erleben“, sagte Ex-Präsidentschaftskandidat Henrique Capriles. „Aber es geht darum, vorwärts zu kommen.“ Capriles hatte immer zu den Kritikern eines Wahlboykotts gehört und sich damit auch gegen Guaidó gestellt.
Dabei ist die Lage in Venezuela verheerend: Armut und Elend sind überall spürbar. Die Wirtschaft ist fast vollständig vom Erdölexport abhängig und seit 2013 um bis zu 80 Prozent eingebrochen. Die Inflationsrate betrug nach Angaben der Zentralbank im vergangenen Jahr knapp 3.000 Prozent. Der Mindestlohn in Venezuela ist gerade noch 2,50 US-Dollar wert. 76 Prozent der Venezolaner gelten als extrem arm, haben nicht genug zu essen. Durch Sanktionen ist das Land weltweit vom Handel abgeschnitten und kommt nur dank Verbündeter wie Russland und der Türkei über die Runden. Knapp sechs Millionen Venezolaner und damit knapp ein Fünftel der Gesamtbevölkerung haben wegen der Krise seit 2015 ihr Land verlassen, zumeist nach Kolumbien, Peru und Chile.
Wahlbeobachter der EU
In diesem Krisen-Szenario haben sich Regierung und Opposition im August dieses Jahres auf einen neuen Aufschlag für Verhandlungen geeinigt, dieses Mal in Mexiko und unter der Vermittlung von Norwegen. Die Regierung entließ einige Oppositionspolitiker aus der Haft. Obwohl Guaidó immer wieder kritisierte, dass die Voraussetzungen für freie und transparente Wahlen in Venezuela fehlten, willigte die Opposition zur Teilnahme an den Regionalwahlen ein. Sie machte aber zur Bedingung, dass Wahlbeobachter der EU ins Land gelassen werden. Die 130 Männer und Frauen, die derzeit in Venezuela sind, bilden die erste EU-Wahlbeobachtermission seit 15 Jahren in dem Land.
Der politische Analyst und Direktor der Politikberatung Consultores21, Saúl Cabrera, sagt, die gemeinsame Liste der Opposition sei bereits ein Erfolg. So könnten in einzelnen Staaten Gouverneurs- und Bürgermeisterämter von Regierungskritikern besetzt werden. Allerdings hätten viele Venezolanerinnen und Venezolaner kein Vertrauen mehr in das politische System und dass sich mit den Wahlen etwas an ihrer Lebenssituation ändere. Somit rechne er mit einer geringeren Wahlbeteiligung als in den Jahren zuvor.