Frankfurt a.M./Addis Abeba - Als der äthiopische Ministerpräsident Abiy Ahmed im November 2020 Truppen nach Tigray schickte, ging er offenbar von einem kurzen Einsatz aus. Nach wenigen Wochen erklärte er den Sieg über die Volksbefreiungsfront von Tigray (TPLF), seine regionalen Gegenspieler, die dort regierten. Auch nach ihrer Vertreibung mit militärischen Mitteln ist der Konflikt nach fast einem Jahr noch immer nicht gelöst. Im Gegenteil: Was regional begann, wird zu einer Gefahr für das ganze Land.
Auslöser der Gewalt im langanhaltenden Machtstreit zwischen Zentral- und Regionalregierung war ein Angriff auf eine Militärbasis, für den Abiy die TPLF verantwortlich machte. Seine Truppen rückten in Tigray ein und übernahmen die Macht, die Zentralregierung ersetzte die TPLF mit einer eigenen Übergangsregierung. In den vergangenen Monaten kam es jedoch zu einem Wendepunkt: Die paramilitärischen Truppen der TPLF eroberten große Teile Tigrays zurück, und statt eines schnellen Endes gewann der Konflikt an Intensität.
Im Juli rief die Zentralregierung Menschen im ganzen Land auf, sich mit ihr verbündeten Milizen anzuschließen und in Tigray zu kämpfen. Damit begann Experten zufolge eine neue Phase. „Ein Krieg mit einem schrecklichen Blutzoll droht sich bedeutend auszuweiten und zu Tausenden weiteren Toten und einer Destabilisierung des Landes zu führen“, schrieb die International Crisis Group in einer Analyse dazu Ende Juli. Die US-Regierung äußerte sich nun zudem besorgt über Berichte, dass Truppen aus dem Nachbarland Eritrea nach Tigray zurückkehren - nachdem sie sich im Juni zurückgezogen hatten -, um an der Seite der Zentralregierung zu kämpfen.
Ethnische Konflikte weiten sich aus
Unabhängige Berichte aus der abgeriegelten Region gibt es kaum, stattdessen führen die TPLF und die Zentralregierung auch Propagandakampagnen. Am Wochenende erklärten beide Seiten, jeweils tausende gegnerische Kämpfer getötet zu haben.
Gleichzeitig hat die Gewalt auch auf die Regionen Afar und Amhara übergegriffen, die im Osten und Süden an Tigray grenzen.
Damit bekommt der Konflikt eine weitere ethnische Dimension: Äthiopien ist ein Vielvölkerstaat, in dem Dutzende Bevölkerungsgruppen um Einfluss streiten. So beschuldigte die Regionalregierung in Amhara immer wieder Kräfte in Tigray, in der Nachbarregion ethnische Spannungen zu schüren. In der Region Oromia, die Heimat der größten Bevölkerungsgruppe, kommt es hingegen seit Jahren zu Aufständen gegen die Zentralregierung.
„Äthiopien befindet sich an einem existentiellen Krisenmoment“, sagte Rashid Abdi von der regionalen Denkfabrik Sahan der BBC. Wie das Land die ethnischen Konflikte durchstehe, sei offen. Es gebe ein großes Risiko, dass Äthiopien auseinanderfalle.
5,2 Millionen Menschen auf Hilfe angewiesen
Für die Bevölkerung wird die Lage unterdessen immer dramatischer. Die Vereinten Nationen warnten Anfang September, der Tigray-Konflikt könne sich zur weltweit schwersten Hungersnot seit Jahrzehnten auswachsen. Rund 5,2 Millionen Menschen, etwa 90 Prozent der Bevölkerung, sind laut UN-Schätzungen auf Hilfe angewiesen. Der Zentralregierung wird vorgeworfen, Hilfslieferungen nach Tigray zu blockieren. Derweil sind Menschenrechtsorganisationen zufolge alle Seiten in dem Konflikt für schwere Verbrechen wie Massaker an der Zivilbevölkerung, systematische Vergewaltigungen und Plünderungen verantwortlich. 48.000 Menschen sind aus Tigray ins Nachbarland Sudan geflohen.
Ein Ende des Leids ist nicht in Sicht, weil sich für keine Partei der entscheidende militärische Sieg abzeichnet. Die einzige Möglichkeit seien deshalb Verhandlungen über eine politische Lösung, schrieb der Äthiopien-Experte Mukesh Kapila Anfang September im Wissenschaftsmagazin „The Conversation“. Doch je länger der Konflikt dauere, desto schwieriger sei es - sofern nicht dann doch eine Seite zermürbt aufgibt.