London - Seit Beginn der Kämpfe in der äthiopischen Unruheregion Tigray vor einem halben Jahr sind laut Amnesty International Tausende Menschen getötet und Hunderttausende vertrieben worden. Es gebe ausreichend glaubwürdige Beweise von gravierenden Menschenrechtsverletzungen, aber nur eine viel zu schwache Reaktion der internationalen Gemeinschaft, erklärte Amnesty am Dienstag. Sowohl die politischen Führungen in Afrika als auch die Vereinten Nationen müssten endlich etwas unternehmen, um den Konflikt zu befrieden.
Die äthiopische Regierung habe die Bitten von Amnesty International nach Zugang in die Kriegsregion zwar ignoriert, doch habe die Menschenrechtsorganisation dennoch eine Reihe von schweren Verbrechen dokumentieren können, unter anderem über die Auswertung von Satellitenfotos oder Videoaufnahmen. Auch zahlreiche Überlebende seien befragt worden.
Unter den Gräueltaten listet Amnesty in dem Bericht, der genau sechs Monate nach dem gemeldeten Beginn der Kämpfe am 4. November erscheint, ein Massaker an Hunderten Zivilisten in Mai-Kadra Anfang November auf. Dafür sollen angeblich Kämpfer mit Verbindung zur in Tigray regierenden TPLF verantwortlich gewesen sein, heißt es in der Dokumentation. Anschließend seien zahlreiche Berichte über Vergeltungsattacken gegen Angehörige der Volksgruppe der Tigray eingegangen, darunter auch außergerichtliche Hinrichtungen, Plünderungen und Massenfestnahmen.
Auch Übergriffe durch eritreische Soldaten
Soldaten aus dem Nachbarland Eritrea, für das die TPLF nach wie vor als historischer Erzfeind gilt, hätten den Recherchen zufolge Ende November Hunderte Menschen in Axum getötet, heißt es in dem Bericht. Auch äthiopische Truppen hätten nahe Axum im Januar außergerichtliche Hinrichtungen verübt.
Außerdem lägen Vorwürfe ethnischer Säuberung und Vertreibungen im Westen Tigrays vor sowie Berichte über weitverbreitete sexuelle Gewalt gegen Frauen und Mädchen, darunter Gruppenvergewaltigungen seitens äthiopischer und eritreischer Soldaten. Hilfsorganisationen meldeten zudem immer wieder Angriffe auf Kliniken und Gesundheitsposten und Plünderungen der Einrichtungen.
„Es ist skrupellos, wenn Frauen und Mädchen in Tigray sexueller Gewalt ausgesetzt sind, während die Welt zuschaut“, protestierte Deprose Muchena, Amnesty-Regionaldirektor für Ost- und Südafrika. „Gleichzeitig werden die Vorräte von Krankenhäusern und humanitären Helfern in dem Konflikt dezimiert und sie sind kaum noch in der Lage zu helfen.“
Amnesty fordert dringend internationale, unabhängige Untersuchungen der Gräueltaten aller Parteien. Verantwortliche müssten zur Rechenschaft gezogen werden, und es brauche eine klare Botschaft, dass keiner straflos Verbrechen verüben könne, erklärte Muchena. „Wenn die Antwort der internationalen Gemeinschaft auf den Tigray-Konflikt weiter so lau bleibt, droht die ohnehin schon schreckliche Lage völlig außer Kontrolle zu geraten.“