Mumbai (epd) - Das Schweigen zu brechen, ist schwer. Die Beschäftigten im Bhabha-Krankenhaus in der indischen Metropole Mumbai sind darin geschult, Anzeichen häuslicher Gewalt zu erkennen. Ärzte und Ärztinnen überweisen Frauen dann ins Krisenzentrum Dilaasa, das sich ebenfalls in der Klinik befindet. Die Mitarbeiterinnen dort versorgen Überlebende der Gewalt, suchen behutsam das Gespräch. Wo es Probleme gebe, erkenne man schnell, sagt Ashiwini Kamble vom städtischen Gesundheitsbasisdienst. Doch es brauche Zeit, bis die Frauen Vertrauen fassten und von sich auch etwas sagten.
Laut indischer Kriminalstatistik wird im Land alle 16 Minuten eine Frau oder ein Mädchen vergewaltigt, 88 am Tag, berichtete die Tageszeitung "Times of India" unter Berufung auf offizielle Stellen. Die Zahl der gemeldeten Gewaltverbrechen ist über die Jahre stetig gestiegen, von 2018 auf 2019 waren die Vergewaltigungsfälle aber leicht rückläufig. Vergewaltigung in der Ehe ist in Indien keine Straftat, es sei denn die Ehefrau ist unter 15 Jahre alt. Die Dunkelziffer ist hoch. Dabei hat eine Reihe brutaler Verbrechen Indien wachgerüttelt. Der bekannteste Fall löste weltweit Empörung und Entsetzen aus: Im Dezember 2012 wurde eine Studentin in einem Bus in Delhi von mehreren Männern vergewaltigt und so schwer verletzt, dass sie wenig später starb.
In den folgenden Jahren gingen Inder und Inderinnen nach Bekanntwerden von grausamen Vergewaltigungen weiter auf die Straße. Zuletzt nach den Morden an zwei kastenlosen Frauen, die kurz hintereinander im September in Nordindien, 500 Kilometer voneinander entfernt, vergewaltigt worden waren.
Die Männer müssen sich ändern
Dennoch sieht der Sozialarbeiter Harish Sadani die 2012 ausgelöste Empörung als vertane Chance an. "Die Menschen sind aus Solidarität auf die Straße gegangen, doch aus dem Protest ist keine Bewegung entstanden", sagt er. "Es kann sich nur etwas ändern, wenn Männer sich ändern." Sadani will den Widerstand, geschlechtsspezifische Gewalt aufzuarbeiten, mit seiner Organisation, "Men against Violence and Abuse" (Männer gegen Gewalt und Missbrauch) brechen. Nach seiner Meinung fehlt, dass Männer, also die Verursacher der Gewalt, stärker angesprochen werden. Aus Gesprächen weiß er, dass viele falsche Vorstellungen von Sexualität haben. "Toxische Männlichkeit wird Jungen vorgelebt", beklagt er. Das müsse sich ändern.
Die Soziologin Anagha Sarpotdar kann bestätigen, wie groß die Herausforderungen für Frauen sind. Sie arbeitet in Mumbai als Beraterin gegen sexualisierte Belästigung am Arbeitsplatz. "Seit zehn Jahren beobachten wir einen Rückgang der Beschäftigung von Frauen", sagt sie. Die Gründe dafür seien vielfältig, auch Gewalt gegen Frauen gehöre dazu. "Zwar sieht man mehr Frauen im öffentlichen Raum, dennoch nehmen die Fälle von Gewalt gegen Erwerbstätige zu", hat sie festgestellt.
Niedrige Verurteilungsrate ist Kernproblem
Aber Sarpotdar sieht auch Fortschritte: "Wir haben ein großes Erbe an Aktivismus von Frauen. Feministische Bewegungen haben die Gesellschaft verändert. Frauen sind sich dessen bewusst und leisten Widerstand." 1997 führte der Oberste Gerichtshof die Vishaka-Richtlinien ein, ein Gesetz gegen sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz. Dennoch liege Indien in diesem Bereich weit zück. "Frauen haben den Wandel akzeptiert, doch Männer kommen nur langsam voran."
Auch die Hinrichtung von vier Tätern der Gruppenvergewaltigung von 2012 im März dieses Jahres hatte kaum abschreckende Wirkung. Die niedrige Verurteilungsrate bleibt weiter ein Kernproblem. Weniger als ein Drittel aller gemeldeten Vergewaltigungen wird geahndet. Indien bräuchte mehr gerichtsmedizinische Labore und Schnellgerichte, die tätig werden, bevor den Opfern weiterer Schaden zugefügt wird, fordern Aktivisten.