Indische Metropole Kalkutta
Dubai, Neu-Delhi (epd). "Bitte sechs Fuß Abstand halten", mahnen die Schilder in der schicken Ambience Mall. Seit Montag darf das Einkaufszentrum im Süden der indischen Hauptstadt Neu-Delhi wieder öffnen, ebenso wie Tempel und viele andere öffentliche Einrichtungen. Nach einem der striktesten Lockdowns der Welt kehrt Indien nach mehr als zwei Monaten langsam zur Normalität zurück - scheinbar jedenfalls. Denn während Geschäfte und Schulen wieder den Betrieb aufnehmen und der Zug- und Flugverkehr anläuft, steigt die Zahl der Covid-19-Fälle rasant.
Indien hat inzwischen Italien und Spanien bei den registrierten Fallzahlen überholt und liegt weltweit auf Platz fünf. Bis Dienstag wurden mehr als 267.000 Infektionen erfasst. Die Zahl der Todesfälle lag laut offizieller Statistik bei 7.478.
Besonders schlimm betroffen ist Neu-Delhi mit mehr als 27.000 registrierten Infizierten. Regierungschef Arvind Kejriwal versicherte den 20 Millionen Einwohnern vergangene Woche, die Behörden seien "Corona um vier Schritte voraus". Doch viele sehen das anders. Denn die Krankenhäuser der Stadt verfügen nur über 6.700 zur Covid-19-Behandlung geeignete Betten, doch derzeit müssen 12.000 Corona-Patienten versorgt werden. Obwohl Delhi vergleichsweise viele Kliniken hat, ist die Lage verheerend.
Es fehlt an Intensivbetten, an geschultem Personal und an Schutzkleidung, was zu hohen Infektionsraten bei Ärztinnen, Ärzten und Pflegekräften führt: Allein im staatlichen Spitzenkrankenhaus AIMS sind mehr als 350 Angestellte positiv auf Covid-19 getestet worden.
Schwerkranker wurde mehrfach abgewiesen
Der Fall Narender Jains ist beispielhaft und sorgte für Schlagzeilen in den indischen Medien. Der 47-Jährige wurde am 1. Juni mit hohem Fieber und Atembeschwerden in ein Krankenhaus des nördlichen Hauptstadt-Distrikts Shahdara gebracht. Wie die "Times of India" unter Berufung auf Jains Bruder berichtete, wurde er für einen Corona-Test in eine andere Klinik geschickt, von wo er ebenfalls weiterverwiesen wurde.
Nach einer Anzahlung von 50.000 Rupien (knapp 600 Euro) machte schließlich eine private Klinik einen Test, der positiv ausfiel. Eine Behandlung sei dort jedoch aus Mangel an Intensivbetten nicht möglich gewesen, so dass der Schwerkranke zu einem weiteren Krankenhaus in einem anderen Stadtteil geschickt wurde. Doch auch dort wies man die Familie ab, weil es keine Beatmungsplätze mehr gab. Jain starb wenige Stunden später. "Wir können nur hoffen, dass andere nicht so leiden müssen wie wir", sagte sein Bruder Vikas Jain der Zeitung.
Lockdown hat offenbar wenig bewirkt
Der seit dem 25. März geltende Lockdown der Regierung von Premierminister Narendra Modi hat offenbar wenig dazu beigetragen, die Infektionskurve niedrig zu halten. Millionen Einwohner in Delhi leben auf engstem Raum in illegalen Siedlungen, wo Abstandhalten eine Illusion ist. Es fehlt an Wasser, sanitären Einrichtungen und Strom. Infektionen verbreiten sich in Windeseile.
Viele Bewohner haben zudem durch den Lockdown ihre Arbeit als Fahrer, Hauspersonal, Gärtner oder Bauarbeiter verloren. Sie sind daher zum großen Teil auf Lebensmittelhilfen und Armenspeisungen von Tempeln und Hilfsorganisationen angewiesen, für die sie oft für Stunden in langen Schlangen anstehen müssen.
Die Bundesstaaten regeln die Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie selbstständig, je nach Infektionsrate. Doch in der Praxis ist vieles kaum umzusetzen. So auch bei den rund 30 Millionen arbeitslosen Migranten, die die Metropolen verlassen haben. Die meisten Staaten haben keinen Ort für die vorgesehenen zwei Wochen Quarantäne. Also werden die Wanderarbeiter direkt in ihre Dörfer geschickt.
Kritik an striktem Lockdown und abrupter Lockerung
Der Lungenfacharzt Arvind Kumar hält es für verfrüht, Einkaufszentren und Tempel zu öffnen. Es gebe nicht genug Kontrollen, um sicherzustellen, dass sich die Leute an die neuen Hygieneregeln hielten, sagte Kumar der indischen Nachrichtenagentur PTI.
Auch der Unternehmer Rajiv Bajaj ist einer der vielen, die Kritik an den Maßnahmen der Regierung üben. Indien habe sich für einen "drakonischen" Lockdown entschlossen, der jedoch so porös gewesen sei, dass er einerseits die Wirtschaft schwer in Mitleidenschaft gezogen habe, die Verbreitung des Virus jedoch andererseits nicht gestoppt habe. "Ich glaube, wir haben das Schlechteste beider Welten erreicht", sagte Bajaj.