In Indien sind viele Tagelöhner plötzlich arbeitslos und obdachlos geworden (Archivbild)
Dubai, Neu-Delhi (epd). Etwa 100 Kilometer vor seinem Dorf brach der indische Arbeitsmigrant Ranvir tot zusammen. Nachdem die Regierung eine dreiwöchige Ausgangssperre im ganzen Land erlassen hatte, hatte sich der 38-Jährige aus der Hauptstadt Neu-Delhi zu Fuß auf den Weg in die Heimat im Bundesstaat Madhya Pradesh gemacht. So wie Millionen weitere Tagelöhner war er arbeitslos und obdachlos geworden. "Holt mich, wenn ihr könnt", hatte Ranvir zuletzt noch seine Familie am Telefon angefleht, wie die Zeitung "Indian Express" berichtete. 230 Kilometer hatte er zurückgelegt.
Um die Ausbreitung des Coronavirus zu stoppen, hatte Ministerpräsident Narendra Modi am vergangenen Dienstag den größten Lockdown in der Geschichte des Landes angeordnet. Mehr als 1,3 Milliarden Menschen - fast ein Fünftel der Weltbevölkerung - müssen drei Wochen daheim bleiben. "Um Indien und jeden Inder zu retten, wird es ein absolutes Ausgangsverbot geben", erklärte Modi. Es blieben nur vier Stunden Zeit vor Inkrafttreten der Maßnahme.
Ohne Arbeit müssen sie hungern
Ohne zeitlichen Vorlauf traf die Ausgangssperre Millionen Inder, die sich als Tagelöhner, Wanderarbeiter, Straßenhändler, Taxifahrer, Fabrikarbeiter, Haushaltshilfen, Bauarbeiter und Handwerker durchschlagen. Da sie meist von den Einnahmen des Tages leben, müssen sie ohne Arbeit hungern. Weil auch der Bus- und Zugverkehr gestoppt ist, kommen sie aber auch kaum in ihre Dörfer. Die von der Regierung eingesetzten Busse reichen bei weitem nicht aus.
Ranvir, etwa, der in der DDA-Kolonie, einem Slum im Kalkaji-Viertel in Neu-Delhi lebte, bekam sein Essen vom Restaurant, für das er als Lieferbote arbeitete. Von seinem Lohn zahlte er Schulden ab und unterstützte seine Familie, für ihn blieb kaum etwas. Mit der Schließung des Restaurants hatte Ranvir weder Geld noch Essen.
Hunderttausende Arbeiterinnen und Arbeiter haben sich zu Fuß auf den Weg gemacht, nachdem Ausgangssperre und neue Isolationsregelungen ihre Existenz vernichtet haben. Manche in Indien vergleichen diese Massen-Wanderung bereits mit der chaotischen Teilung Indiens 1947 zu Ende der britischen Kolonialzeit, als Millionen Menschen aus ihrem Städten und Dörfern fliehen mussten.
Modi entschuldigte sich
Ministerpräsident Modi entschuldigte sich am Sonntag in einer Radioansprache. "Besonders wenn ich auf meine armen Brüder und Schwestern schaue, fühle ich, dass sie denken müssen, was für eine Art Premierminister ich eigentlich bin, der sie in solche Schwierigkeiten gestürzt hat", sagte Modi. Doch leider gebe es keinen anderen Weg, um das Virus zu stoppen.
Zwar hat Indiens Regierung ein Hilfsprogramm gestartet, um die Armen in der Krise zu unterstützen. Doch die Nahrungsmittelhilfen und Bargeldzahlungen kommen vor allem denjenigen zugute, die bereits von der Regierung Hilfe erhalten. Diejenigen, die in den Metropolen im informellen Sektor arbeiten, haben meist gar nicht die erforderlichen Papiere dafür. Schätzungen zufolge sind 80 Prozent der 470 Millionen indischen Arbeitskräfte Wanderarbeiter. Staatliche Hilfen sind aber an einen Eintrag in der nationale Datenbank geknüpft, die meisten Arbeitsmigranten sind jedoch in ihrem Dorf gemeldet und nicht in der Stadt, wo sie arbeiten.
Regelmäßiges Händewaschen reiner Luxus
Indien hat laut der US-amerikanischen Johns Hopkins Universität bislang 1.071 bestätigte Covid-19-Fälle (Stand Montagmittag MESZ). 29 Menschen sind an der Virus-Infektion gestorben. Weil das Land dicht besiedelt ist und das Gesundheitssystem vor allem auf dem Land schlecht ist, wächst die Sorge, dass sich das Virus sehr schnell ausbreiten könnte. Für die meisten Inder sind zudem Maßnahmen wie Abstand zu anderen halten oder regelmäßiges Händewaschen reiner Luxus. Während Indiens Mittel- und Oberschicht den Lockdown mit Wein, Essen und Netflix daheim verbringt, haben Millionen Slumbewohner und Obdachlose keinen Ort, an den sie sich zurückziehen können.
Obdachlose bekommen in Neu-Delhi gewöhnlich Essen von religiösen Einrichtungen. Doch nun, da Kirchen, Tempel und Moscheen geschlossen sind, gibt es auch hier keine Unterstützung mehr. An den Suppenküchen, die Armenspeisung anbieten, hatten sich schon in der vergangenen Woche Tausende Hungrige versammelt. Die Polizei versuchte, die Menge zu vertreiben und prügelte mit Bambusstöcken auf die Menschen ein.
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