Santiago (epd). Das Tränengas brennt in den Augen. Die Demonstranten auf der Plaza Italia im Zentrum der Hauptstadt Santiago weichen einige Meter zurück. Manche tragen Stoffmasken und Schutzbrillen, Freiwillige leisten Erste Hilfe. Kurze Zeit später ist die Menge wieder zurück auf dem Platz. Auch drei Monate nach Beginn der Unruhen sind solche Bilder Alltag in Chile.
Jeden Freitag zieht es Zehntausende Bürger und Bürgerinnen auf die Straße. Am Rand friedlicher Kundgebungen kommt es immer wieder zu Zusammenstößen mit Sicherheitskräften, auch an diesem Abend Mitte Januar. Vermummte werfen Steine und errichten brennende Straßenbarrikaden, die Polizei schießt mit Wasserwerfern und Tränengasgranaten.
Das einstige Vorzeigeland Lateinamerikas ist in Aufruhr. Die Wirtschaft schwächelt, der Peso verlor an Wert, Touristen aus dem Ausland stornierten ihre Reisen. Als Reaktion auf die Protestwelle hat der konservative Staatspräsident Sebastián Piñera soziale Reformen und ein Referendum über eine neue Verfassung angekündigt. Doch das Land kommt nicht zur Ruhe.
Tote und Verletzte
Die Straßen rund um die Plaza Italia gleichen einer Gefahrenzone. Geschäfte und Cafés haben geschlossen, Bürogebäude sind verrammelt. An den Wänden prangen Parolen gegen die Regierung und die verhasste Militärpolizei. Seit Beginn der Unruhen im Oktober sind landesweit 27 Menschen umgekommen. Das chilenische Menschenrechtsinstitut zählte bis Mitte Januar zudem mehr als 400 Personen, die durch Gummigeschosse der Polizei im Gesicht verletzt wurden oder ein Auge verloren haben.
"Die Polizei versucht mit allen Mitteln zu verhindern, dass wir uns hier versammeln, obwohl das ein Grundrecht ist", beschwert sich ein junger Mann, der sich mit einem selbstgebastelten Schild bewaffnet hat und eine Gasmaske trägt. "Die Polizeigewalt hat die Leute noch wütender gemacht", sagt er.
Es sind vor allem junge Männer und Frauen aus den ärmeren Stadtvierteln, die sich der Staatsmacht entgegenstellen - und dafür von der Protestbewegung in den sozialen Medien gefeiert werden. Der Soziologe Aldo Mascareño vom Forschungsinstitut CEP in Santiago warnt deshalb vor einer Gewaltspirale. "Das Misstrauen gegenüber den Politikern ist groß", erklärt er. Viele Menschen trauten ihnen nicht zu, ernsthaft etwas verändern zu wollen. Allerdings hätten die vergangenen Monate auch konservativen Kräften deutlich gemacht, dass die Debatte über die soziale Ungleichheit geführt werden müsse.
Hector Correa gibt sich damit nicht zufrieden. Der 32-Jährige war seit Oktober auf Dutzenden Demonstrationen. Es genüge nicht, den niedrigen Mindestlohn und die miserablen Renten um ein paar Prozent zu erhöhen, kritisiert er. "Das ändert nichts daran, dass die Gesundheitsversorgung und gute Bildung ein Luxus für Wohlhabende bleiben." Er selbst habe sein Jurastudium abbrechen müssen, weil er das unbezahlte Pflichtpraktikum trotz Studienkredit nicht finanzieren konnte. Jetzt sei er hoch verschuldet und verdiene mit einem Job in einem Callcenter monatlich rund 450.000 Pesos (500 Euro), von denen er mehr als die Hälfte für die Miete ausgeben müsse.
Wende in der Wirtschaftspolitik gefordert
Wie Correa fordern viele Unzufriedene eine grundsätzliche Abkehr von der liberalen Wirtschaftspolitik aus der Zeit der Diktatur (1973-1990) und einen stärken Sozialstaat. Möglich sei das nur mit einer neuen Verfassung, erklärt die Politologin Julieta Suárez-Cao von der katholischen Universität: "Die jetzige Verfassung, die noch aus Zeiten der Pinochet-Diktatur stammt, ist darauf ausgelegt, den Status Quo zu erhalten und verhindert, dass etwa das privatisierte Pensionssystem grundlegend umgebaut werden kann."
Am 26. April sollen die Chilenen darüber abstimmen, ob sie eine neue Verfassung wollen - und in welcher Form sie zustande kommen soll. Umfragen deuten auf eine Mehrheit für die Reform hin, sie ist eine der Kernforderungen der Protestbewegung. Ob ein neuer Text, der 2022 verabschiedet werden soll, den erhofften Wandel einleiten kann, sei offen, meint Suárez-Cao. Aber der Verfassungsprozess biete die Chance, dass die Menschen wieder mehr Vertrauen in das politische System gewinnen.
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