Cúcuta (epd). Zwei junge Leute machen aus der Not ein Geschäft. "Wir helfen Menschen, die aus Venezuela weg wollen", sagt die 31-jährige Venezolanerin, die sich schlicht als Lorena vorstellt. Als sie und Jason (25) ihre Jobs in der grenznahen Stadt San Cristóbal verloren hatten, suchten sie nach neuen Wegen, um über die Runden zu kommen. "Wir sahen, wie die Menschen mit Bussen und auf Lastwagen in San Cristóbal ankamen und dann nicht mehr weiter wussten", berichtet Lorena.
Da kam ihnen die Idee: Seitdem bieten die beiden für drei US-Dollar pro Person ihre Hilfe beim Überqueren der Grenze in Richtung der kolumbianischen Stadt Cúcuta an. "Wir müssen auch überleben, andere nehmen 40 Dollar", rechtfertigt sich Lorena. Als die kolumbianische Regierung Venezuelas Oppositionsführer Juan Guaidó Ende Januar offiziell als Interimspräsidenten anerkannte, ließ Venezuela die Grenze schließen.
Wackliger Pfad aus Steinen
Seitdem gibt es nur einen illegalen Weg nach Kolumbien, der durch Gebüsch, Sumpf und über einen provisorischen wackligen Pfad aus Steinen durch einen schmalen Fluss führt. "Wir zeigen den Flüchtlingen den Weg, begleiten sie und helfen mit dem Gepäck", sagt Jason. Jeden Tag überqueren beide mehrfach illegal die Grenze. In Cúcuta sind bereits Zehntausende Flüchtlinge gestrandet.
Mehr als 3,4 Millionen Venezolaner - elf Prozent der Einwohner - sind wegen der schweren ökonomischen und politischen Krise aus ihrem Land geflohen. Die meisten kommen zuerst in Cúcuta an. Allein Kolumbien beherbergt inzwischen 1,17 Millionen Flüchtlinge. Allerdings ist die Mehrheit von ihnen irregulär im Land und findet keine Arbeit. Deshalb machen sich immer mehr Venezolaner auf in Richtung Ecuador, Peru und Chile.
Für medizinische Notfälle ist die Grenze geöffnet
Der illegale Weg über die Grenze nach Cúcuta, die "trocha", verläuft parallel zur geschlossenen Grenzbrücke Simón Bolívar unter den Augen der venezolanischen Grenzer. Tausende Venezolaner machen sich täglich auf den Weg, um sich mit Lebensmitteln und Medikamenten einzudecken. 30.000 Menschen überquerten laut dem UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR 2018 täglich die Grenze. Davon blieben etwa 5.000 als Flüchtlinge in Kolumbien. "Seitdem die Grenze geschlossen ist, haben wir keinen Überblick mehr", sagt der UNHCR-Repräsentant für Kolumbien, Josef Merkx.
Die Betonbrücke ist fast menschenleer, in der Mitte blockiert auf venezolanischer Seite ein Container den Weg. Nur ein schmaler Pfad, ein sogenannter humanitärer Korridor, ist offen. Internationale Hilfswerke haben zusammen mit Kolumbien diesen Durchgang erkämpft. Auf venezolanischer Seite gibt es viele Familien, die ihre Kinder in Cúcuta zur Schule schicken. Für Kinder unter fünf Jahren, Rentner und medizinische Notfälle ist die Grenze geöffnet.
Ressourcen reichen bei weitem nicht
Die 800.000 Einwohner zählende Stadt Cúcuta steht für die Verzweiflung und das Elend der venezolanischen Flüchtlinge. Das Internationale Rote Kreuz, UNHCR und andere Hilfsorganisationen haben Zelte für die provisorische Versorgung und Beratung der Flüchtlinge aufgestellt. Doch die Ressourcen reichen bei weitem nicht.
Vor einer Rotkreuz-Baracke sitzt zusammengesunken Alonzo aus dem venezolanischen Maracaibo. Aus Angst, dass seine Familie zu Hause Repressalien erleiden könnte, möchte er seinen vollen Namen nicht genannt wissen. Der 21-Jährige hat gerade eine Büchse Thunfisch bekommen, seine erste Mahlzeit seit zwei Tagen. Auf der "trocha" sei er ausgerutscht und habe sein Handy im Fluss verloren. Jetzt wisse er nicht mehr weiter, erzählt Alonzo verzweifelt. Er wollte weiter zu einer Tante nach Peru. Doch er hat nicht einmal feste Schuhe für den mehr als 2.600 Kilometer weiten Weg dabei. In dieser Nacht wird der Student auf der Straße schlafen.
"Ich war in Gottes Händen"
Für Royber Aponte hat die Flucht sein Leben gerettet. Denn der Diabetiker braucht täglich Insulin. "In Venezuela gab es kein Insulin, nicht mal auf dem Schwarzmarkt", erzählt er. "Ich wog nur noch 30 Kilo und hatte Wasser in den Beinen. Ich war so schwach, konnte keine zehn Meter mehr laufen." Wenn sich der 26-Jährige daran erinnert, kommen ihm die Tränen. Die schlimmste Erfahrung für ihn aber war, dass er wegen seiner Homosexualität von seiner eigenen Familie verhöhnt und zurückgewiesen wurde.
Im Juli 2018 entschloss er sich zur Flucht - ganz allein. "Als ich Cúcuta ankam, dachte ich, ich muss sterben", sagte er. Kolumbianer, die auf den ausgemergelten, fast ohnmächtigen jungen Mann aufmerksam wurden, brachten ihn in die Notaufnahme. "Ich war in Gottes Händen", sagt er. Im Hospital traf er Mitarbeiter der Stiftung "Censurados", die sich vor allem um schwule, lesbische und transsexuelle Flüchtlinge kümmert.
Aponte kam in ein Wohnprojekt, bekam psychologische Hilfe und konnte einen Asylantrag stellen. "Die ersten Wochen hat Royber nicht gesprochen und sich sehr zurückgezogen", sagt Carolina Arrenas von "Censurados". Heute wiege er schon 48 Kilo, erzählt Aponte stolz und lächelt dabei sogar. Es ist der Anfang von einem noch weiten Weg.
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