Leere Versprechen

Das Millenniumsziel Nummer 8, die Vereinbarung einer globalen Entwicklungspartnerschaft, ist eine wichtige Voraussetzung dafür, dass alle anderen MDGs erreicht werden. Doch Worte und Taten klaffen hier weit auseinander. So richtet etwa die Europäische Union ihre Handelspolitik keineswegs an der Beseitigung von Armut aus. Auch die Regulierung des globalen Finanzsystems kommt nach wie vor nicht voran.

Von Thilo Hoppe

Eigentlich bin ich ein optimistischer Mensch. Doch wenn ich mir die mageren Zwischenergebnisse vergegenwärtige, die auf dem Weg zur Erreichung der Millenniumsentwicklungsziele (MDG) zu verzeichnen sind, beschleicht mich eine Mischung aus Frustration, Trauer und Wut. Auch Teilerfolge, etwa bei den Einschulungsraten, können nicht darüber hinwegtäuschen, dass bei einem „weiter so“ global gesehen keines der acht Entwicklungsziele erreicht wird.

Besonders ärgert mich, wenn die magere Bilanz schön gerechnet werden soll. So wird von Erfolgen bei der Hungerbekämpfung gesprochen, obwohl die Zahl der chronisch Unterernährten dramatisch gestiegen ist und mit 1,1 Milliarden einen historischen Höchststand erreicht hat. Da die Weltbevölkerung aber schneller gewachsen ist, können Statistiker vorrechnen, dass sich der prozentuale Anteil der Hungernden an der Gesamtbevölkerung ein klein wenig verringert hat. Es ist zynisch, das als Erfolg verkaufen zu wollen. Denn von der Erreichung des Millenniumsziels 1, den Anteil der Hungernden an der Weltbevölkerung bis 2015 zu halbieren, sind wir meilenweit entfernt.

Dabei ist die Messlatte immer weiter nach unten gelegt worden: Auf dem Welternährungsgipfel 1974 hatten die versammelten Staats- und Regierungschefs noch feierlich versprochen, alles dafür zu tun, „dass innerhalb eines Jahrzehnts kein Kind mehr hungrig zu Bett gehen wird, keine Familie mehr um das Brot für den nächsten Tag zittern muss und dass kein Mensch mehr seine Zukunft und seine Fähigkeiten durch Unterernährung verkümmern sieht“. 22 Jahre später, auf dem Welternährungsgipfel 1996 in Rom, war nur noch davon die Rede, bis 2015 die Zahl der Hungernden zu halbieren. Das MDG 1 bezieht sich nun statt auf die Zahl der Hungernden nur noch auf ihren Anteil an der Weltbevölkerung. Aber auch diese niedrigere Latte wird wohl klar gerissen. Es sei denn, wir erleben in den nächsten fünf Jahren einen radikalen Kurswechsel und einen fulminanten Endspurt.

Um die Millenniumsziele insgesamt, darunter die für die Bekämpfung des Hungers, doch noch zu erreichen, sind nicht nur deutlich mehr Geld und Reformen in der Entwicklungszusammenarbeit notwendig. Es muss auch endlich das zwar recht vage formulierte, aber politisch sehr wichtige MDG 8 ernst genommen werden. Es verspricht eine „globale Partnerschaft im Dienst der Entwicklung“ und rückt „ein offenes Handels- und Finanzsystem“ ins Zentrum, „das auf festen Regeln beruht, vorhersehbar ist, nicht diskriminierend wirkt und zur Beseitigung von Armut auf nationaler wie auf internationaler Ebene verpflichtet ist“.

Bei keinem anderen Millenniumsentwicklungsziel liegen die Versprechen der Staats- und Regierungschefs und ihre Handlungen so weit auseinander. Bis zum Beginn der gegenwärtigen Weltwirtschafts- und Finanzkrise war von einem auf „festen Regeln“ beruhenden Finanzsystem überhaupt keine Rede. Und auch jetzt wird zwar viel über notwendige Regulierung gesprochen, auf den G8- und G20-Gipfeln wurde jedoch kein Konsens erzielt. Alle Bemühungen der Vereinten Nationen (UN), die Vorschläge der vom Präsidenten der UN-Generalversammlung eingesetzten Stiglitz-Kommission aufzugreifen und auf diesem Sektor wieder eine größere Rolle zu spielen, wurden von den G8- und G20-Staaten im Keim erstickt.

In der Handelspolitik sieht es nicht besser aus: Die als „Entwicklungsrunde“ proklamierten WTO-Verhandlungen der Doha-Runde stecken in der Sackgasse. Die Europäische Union (EU) und die USA setzen deshalb immer stärker auf bi- und plurilaterale Freihandelsabkommen, bei denen einzelne Entwicklungsländer oder kleinere Gruppen von ihnen kaum Verhandlungsmacht entfalten können und unter die Räder kommen. So sind zum Beispiel die Länder Zentralamerikas gezwungen worden, im Rahmen des Assoziierungsabkommens mit der EU große Mengen von hoch subventioniertem Milchpulver aus Europa auf ihre Märkte zu lassen. Dass sich diese Dumping-Importe verheerend auf die Milchwirtschaft in Zentralamerika auswirken werden, müsste eigentlich jedem klar sein.

Die Einigkeit in der EU in der Handelspolitik ist nur gespielt. Viele Mitarbeitende in der Generaldirektion Entwicklung der Europäischen Kommission schlagen die Hände über dem Kopf zusammen angesichts der aggressiven Liberalisierungsstrategie ihrer Kollegen von der Generaldirektion Handel, die auf Entwicklungsfragen kaum Rücksicht nimmt. Doch wenn es zum Konflikt kommt, ziehen die Entwicklungsexperten stets den Kürzeren. Die Handels- und die Entwicklungspolitik der Europäischen Union scheinen auf zwei verschiedenen Planeten stattzufinden.

Mehr als deutlich werden die Interessenkonflikte bei den jetzt anstehenden Verhandlungen für Freihandelsabkommen der EU mit den Mercosur-Staaten (Brasilien, Argentinien, Uruguay, Paraguay) und mit Indien. Mit den Südamerikanern wird der Deal „Fleisch gegen Autos“ vorbereitet. Europa soll fünfmal so viel Rindfleisch wie bisher auf den europäischen Markt lassen und bekommt dafür einen stark verbesserten Zugang für Industrieprodukte (vor allem Autos und Autoteile) zum Mercosur.

Bei diesem Deal wird es auf beiden Seiten Gewinner und Verlierer geben – je nach Lobbykraft. Freuen dürfen sich auf südamerikanischer Seite die großen Viehzüchter und Fleischexporteure und bei uns die Automobilindustrie, während sich unsere Bauern und verschiedene Industriesektoren in Lateinamerika eher Sorgen machen müssen. Auch ist zu befürchten, dass durch die Ausbreitung der industriellen Landwirtschaft in Lateinamerika Kleinbauern und Indigene noch weiter an den Rand gedrängt und noch mehr wertvolle Primärwälder vernichtet werden. Schlecht für die Erreichung der MDGs, fatal für das Klima.

Wenn es keine Kurskorrektur gibt, wird auch das angestrebte Freihandelsabkommen zwischen der EU und Indien die Bemühungen zur Erreichung der MDGs insgesamt konterkarieren und dem MDG 8 Hohn sprechen. Die angestrebte Liberalisierung des Agrarhandels werde Hunderttausende Kleinbauern auf dem Subkontinent in den Ruin treiben, warnt Olivier de Schutter, der Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen für das Recht auf Nahrung. Und die anvisierten Patentrechtsbestimmung könnten dazu führen, dass in Indien die Produktion von Generika stark beschränkt wird – mit dramatischen, ja tödlichen Folgen für Aids-Patienten in aller Welt.

Auch mit einer noch so guten Entwicklungspolitik kann nicht repariert werden, was mit einer skrupellosen Handelspolitik kaputt gemacht wird. Ähnliche Inkohärenzen ließen sich darstellen, wenn man die Zoll­eskalation der Europäischen Union oder die zur Zeit weltweit boomende Spekulation mit Agrarrohstoffen und Ackerflächen unter die Lupe nehmen würde.

Das MDG 8 lässt sich nicht mit unverbindlichen schönen Worten umsetzen. Dringend nötig wäre eine internationale Wettbewerbsordnung, die an den Menschenrechten und der Erreichung der MDGs orientiert ist und ökologische und soziale Standards verbindlich macht. Dazu braucht es reformierte und gestärkte Institutionen unter dem Dach der UN, die auch über Sanktionsmechanismen verfügen.

Vor zwei Jahren überraschte Bundeskanzlerin Angela Merkel in Davos mit dem Vorschlag, eine UN-Charta für nachhaltiges Wirtschaften auszuarbeiten und einen Weltwirtschaftsrat zu schaffen, der die Einhaltung dieser Charta überwacht. Doch leider entpuppte sich ihr Vorschlag als PR-Gag, weil die Bundesregierung keinerlei Anstrengungen unternahm, den Worten Taten folgen zu lassen. Ganz im Gegenteil: In der Handelspolitik gehört Deutschland nach wie vor zu den Hardlinern in der EU, die das Liberalisierungsdogma nicht antasten und Entwicklungsaspekte den Interessen der eigenen Exportindustrie unterordnen. Dem entspricht auch der neue Kurs des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ), das stark auf bilaterale Entwicklungszusammenarbeit setzt, die eng mit der Außenwirtschaftsförderung verzahnt werden soll. Das ist ziemlich genau das Gegenteil von dem, was auf internationaler Ebene in der Paris-Erklärung zur Wirksamkeit der Entwicklungshilfe und dem nachfolgenden Aktionsplan von Accra proklamiert worden ist.

Wir brauchen gerade im Umfeld der Welt-Armutskonferenz im September 2010 in New York eine ganzheitlichere Sicht auf die Entwicklungsfrage. Natürlich muss es um eine verlässliche Finanzierung gehen, um die Einhaltung der Zusagen, um größere Anstrengungen der Entwicklungsländer und Industrienationen in der Entwicklungszusammenarbeit, um Effizienzsteigerungen, bessere Arbeitsteilung und die Reform von Institutionen. Aber bitte keine Verengung auf den Reparaturbetrieb und die Symptombekämpfung. Wir kommen nur weiter, wenn die Ursachen für den Klimawandel und die multiplen Krisen dieser Zeit stärker in den Blick genommen werden und die in MDG 8 versprochene weltweite Partnerschaft für eine nachhaltige Entwicklung endlich mit Leben erfüllt wird.

Thilo Hoppe ist stellvertretender Vorsitzender des Bundestagsausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung sowie Sprecher für Welternährung der grünen Bundestagsfraktion. Seit Juli 2010 ist er außerdem Vorsitzender der Kammer der EKD für nachhaltige Entwicklung.

erschienen in Ausgabe 9 / 2010: Korruption: Geld, Amt und Macht
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