Laut der „Responsibility to Protect“ – kurz „RtoP“ – sollen die Vereinten Nationen bei Völkermord, Kriegsverbrechen, ethnischen Säuberungen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit notfalls militärische Maßnahmen beschließen, wenn der betreffende Staat selbst nichts dagegen unternimmt oder gar der Täter ist. Der bis September amtierende Präsident der UN-Generalversammlung, Miguel d’Escoto Brockmann aus Nicaragua, hat davor gewarnt, dass nur die starken Nationen diese Regel in Anspruch nehmen werden – auf Kosten der schwachen. Und Noam Chomsky, Linguistik-Professor aus den USA und scharfer Kritiker westlicher Interventionen, empfiehlt einen Blick in die Geschichte: Schon immer hätten Staaten ihre Überfälle auf andere Nationen mit „humanitären“ Motiven begründet. Die RtoP gieße diesen Missbrauch nun in Gesetzesform.
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Intervenieren darf nur, wer ein Mandat der Vereinten Nationen hat. Bereits seit Anfang der 1990er Jahre hat die Weltorganisation mehrmals militärische Maßnahmen gegen innerstaatliche Gewaltexzesse beschlossen. Bislang musste der UN-Sicherheitsrat dazu immer eine „Bedrohung des internationalen Friedens“ feststellen – die Gründer der UN dachten beim Thema Sicherheit nur an zwischenstaatliche Kriege. Die „Responsibility to Protect“ macht diesen Umweg überflüssig: Völkermord und vergleichbare Verbrechen rechtfertigen ein Eingreifen, egal ob sie den Frieden zwischen Staaten bedrohen oder nicht.
Die RtoP verschiebt damit das Völkerrecht weiter in Richtung eines „Menschenrechts“ und weg von seiner traditionellen Funktion eines Rechts der Staaten. Ihr eigentlicher Clou besteht denn auch darin, wie sie den Begriff der staatlichen Souveränität umdeutet: Nimmt man die Schutzverantwortung ernst, dann können nur die Staaten Souveränität als Abwehrrecht gegen Einmischungen von außen für sich beanspruchen, die ihrer Verpflichtung nachkommen, wenigstens die fundamentalen Menschenrechte ihrer Bürger zu achten und zu verteidigen.
Einige Entwicklungsländer können nur schwer akzeptieren, dass die staatliche Souveränität als Schranke gegen Interventionen geschwächt wird – was nach 500 Jahren Kolonialismus durchaus verständlich ist. Im September hat die UN-Generalversammlung eine Entscheidung über die Verwirklichung der „Responsibility to Protect“ auf unbestimmte Zeit vertagt und weitere Beratungen beschlossen. Bleibt zu hoffen, dass die Staatenvertreter bei der nächsten Abstimmung statt an George Orwell an den deutschen Schriftsteller Franz Werfel denken. Der hat schon 1933 in seinem Roman „Die vierzig Tage des Musa Dagh“ über den Völkermord an den Armeniern erklärt, warum die RtoP notwendig ist: „Den Armeniern winkte kein Schutz, keine Hilfe, keine Hoffnung. Sie waren keinem Feinde in die Hände gefallen, der aus Gründen der Gegenseitigkeit das Völkerrecht achten musste. Sie waren einem weit schrecklicheren, einem ganz ungebundenen Feind in die Hände gefallen: dem eigenen Staat.“
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