Vom Staatenrecht zum Menschenrecht

Die Schweine erschleichen sich in George Orwells Fabel „Farm der Tiere“ aus dem Jahr 1945 die Macht. Sie stellen Regeln auf, die nur ihnen Vorteile bringen, ohne dass die anderen Tiere es merken. Das gipfelt am Ende der Geschichte in der zynischen Formel: „Alle Tiere sind gleich, aber einige Tiere sind gleicher als andere.“ Für Kritiker folgt die von den Vereinten Nationen vor vier Jahren verabschiedete „Verantwortung zum Schutz“ der selben Logik: Sie klinge, als gelte sie für alle gleich, zementiere aber in Wahrheit die bestehende Ungleichheit zwischen den Staaten.

Laut der „Responsibility to Protect“ – kurz „RtoP“ – sollen die Vereinten Nationen bei Völkermord, Kriegsverbrechen, ethnischen Säuberungen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit notfalls militärische Maßnahmen beschließen, wenn der betreffende Staat selbst nichts dagegen unternimmt oder gar der Täter ist. Der bis September amtierende Präsident der UN-Generalversammlung, Miguel d’Escoto Brockmann aus Nicaragua, hat davor gewarnt, dass nur die starken Nationen diese Regel in Anspruch nehmen werden – auf Kosten der schwachen. Und Noam Chomsky, Linguistik-Professor aus den USA und scharfer Kritiker westlicher Interventionen, empfiehlt einen Blick in die Geschichte: Schon immer hätten Staaten ihre Überfälle auf andere Nationen mit „humanitären“ Motiven begründet. Die RtoP gieße diesen Missbrauch nun in Gesetzesform.

Autor

Tillmann Elliesen

ist Redakteur bei "welt-sichten".
Ja, im internationalen Recht sind „manche Tiere gleicher als andere“ – das war schon immer so und wird auch so bleiben, solange es keinen Weltstaat gibt. Und ja, Staaten verschleiern ihre wahren Gründe für Interventionen gerne hinter „humanitären“ Motiven. Aber die „Responsibility to Protect“ institutionalisiert diesen Missbrauch nicht, sondern versucht ihn im Gegenteil einzudämmen. Sie proklamiert kein Recht auf humanitäre Intervention, sondern eine Verantwortung aller Staaten, den Opfern schwerster Menschenrechtsverletzungen zu Hilfe zu kommen. Und sie skizziert ein Verfahren, wie diese Verantwortung zu erfüllen ist. Im Völkerrecht wird seit je leidenschaftlich darüber gestritten, ob Staaten bei Völkermord und ähnlichen Fällen zur Not auf eigene Faust militärisch eingreifen dürfen. Die RtoP beendet diese Debatte: Sie dürfen es nicht.

Intervenieren darf nur, wer ein Mandat der Vereinten Nationen hat. Bereits seit Anfang der 1990er Jahre hat die Weltorganisation mehrmals militärische Maßnahmen gegen innerstaatliche Gewaltexzesse beschlossen. Bislang musste der UN-Sicherheitsrat dazu immer eine „Bedrohung des internationalen Friedens“ feststellen – die Gründer der UN dachten beim Thema Sicherheit nur an zwischenstaatliche Kriege. Die „Responsibility to Protect“ macht diesen Umweg überflüssig: Völkermord und vergleichbare Verbrechen rechtfertigen ein Eingreifen, egal ob sie den Frieden zwischen Staaten bedrohen oder nicht.

Die RtoP verschiebt damit das Völkerrecht weiter in Richtung eines „Menschenrechts“ und weg von seiner traditionellen Funktion eines Rechts der Staaten. Ihr eigentlicher Clou besteht denn auch darin, wie sie den Begriff der staatlichen Souveränität umdeutet: Nimmt man die Schutzverantwortung ernst, dann können nur die Staaten Souveränität als Abwehrrecht gegen Einmischungen von außen für sich beanspruchen, die ihrer Verpflichtung nachkommen, wenigstens die fundamentalen Menschenrechte ihrer Bürger zu achten und zu verteidigen.

Einige Entwicklungsländer können nur schwer akzeptieren, dass die staatliche Souveränität als Schranke gegen Interventionen geschwächt wird – was nach 500 Jahren Kolonialismus durchaus verständlich ist. Im September hat die UN-Generalversammlung eine Entscheidung über die Verwirklichung der „Responsibility to Protect“ auf unbestimmte Zeit vertagt und weitere Beratungen beschlossen. Bleibt zu hoffen, dass die Staatenvertreter bei der nächsten Abstimmung statt an George Orwell an den deutschen Schriftsteller Franz Werfel denken. Der hat schon 1933 in seinem Roman „Die vierzig Tage des Musa Dagh“ über den Völkermord an den Armeniern erklärt, warum die RtoP notwendig ist: „Den Armeniern winkte kein Schutz, keine Hilfe, keine Hoffnung. Sie waren keinem Feinde in die Hände gefallen, der aus Gründen der Gegenseitigkeit das Völkerrecht achten musste. Sie waren einem weit schrecklicheren, einem ganz ungebundenen Feind in die Hände gefallen: dem eigenen Staat.“

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erschienen in Ausgabe 10 / 2009: Homosexualität: Akzeptiert, verdrängt, verboten
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