Teure Versäumnisse

Die Preise für Nahrungsmittel steigen. Das trifft vor allem Arme in den Entwicklungsländern hart. Dort wurde lange zu wenig in die Landwirtschaft investiert, so dass Produktionssteigerungen kurzfristig kaum möglich sind. Um die Krise zu meistern, sind Soforthilfe, Investitionen in eine nachhaltige Landwirtschaft, sozialpolitische Maßnahmen sowie Korrekturen in der Handelspolitik erforderlich.

Von Joachim von Braun

Die weltweite Lebensmittelmarkt war lange nicht mehr von so hohen Preisschwankungen gekennzeichnet. Man muss zurückgehen bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs, als landwirtschaftliche Nutzflächen und Handelswege zerstört waren, oder bis 1974, als die Produktion von Lebensmitteln nicht mit dem Bevölkerungswachstum Schritt halten konnte,  um ähnliche  Preisausschläge zu finden. Dieses Mal sind sie ein Symptom für fundamentale Versäumnisse: Die Landwirtschaft ist zu lange politisch und wirtschaftlich vernachlässigt worden. Notwendige Investitionen für Ertragssteigerungen, die nicht auf Kosten der natürlichen Ressourcen gingen, sind unterblieben. Programme zur Energieerzeugung aus Agrartreibstoffen wurden schlecht konzipiert und zu hastig eingeführt. Zudem trifft die Preissteigerung auf eine globalisierte Agrarwelt, auf der mehr Menschen leben, die ernährt werden müssen, und auf der mehr Ungleichheit herrscht als je zuvor.

Global betrachtet wird Landwirtschaft vorwiegend von Kleinbauern betrieben. In den Haushalten der über 400 Millionen kleinen Landwirtschaftsbetriebe in Entwicklungsländern lebt die Mehrheit der Hungernden und Armen der Welt. Diese Gruppen sowie die Landlosen und die städtischen Armen trifft es zuerst, wenn die Nahrungspreise explodieren und die Versorgung mit Nahrungsmitteln knapp wird. Sie müssen ihren Verbrauch an Nahrungsmitteln derzeit bereits einschränken. Doch es gibt durchaus Wege aus der Preiskrise.

„Agricultural Outlook“: Lebensmittel bleiben teuer

Lebensmittel bleiben voraussichtlich in den kommenden zehn Jahren überdurchschnittlich teuer. Dies geht aus einem Bericht hervor, den die Organisation für wirtschaftliche ...

Von 2000 bis 2008 haben sich die Preise für Weizen, Reis und Erdöl in US-Dollar mehr als verdreifacht, Mais ist doppelt so teuer geworden (siehe Abbildung). In Euro ausgedrückt sind die Preissteigerungen zwar geringer, aber immer noch drastisch. Die treibenden Kräfte sind die hohe Nachfrage nach Nahrungs- und Futtermitteln sowie Agrartreibstoffen, deren Produktion nur langsam gesteigert werden kann. Von 2000 bis 2006 ist die Getreideproduktion nur um acht Prozent gewachsen, die weltweiten Vorräte sind im gleichen Zeitraum stark zurückgegangen.

Die landwirtschaftliche Produktion kann kurzfristig kaum auf Preissteigerungen reagieren. Heutzutage dauert die Reaktion sogar länger als früher, weil sich die Anbauflächen nur noch zu hohen Kosten und mit Belastungen für die Umwelt ausdehnen lassen. Um die Produktivität zu steigern, muss vorab investiert worden sein: in Forschung und Entwicklung, Bewässerung und Dienstleistungen. In Entwicklungsländern haben Bauern aufgrund von schlechten Straßen sowie des Fehlens von Strom und Telekommunikation wenig Chancen, die gestiegene Nachfrage nach Nahrungsmitteln zu bedienen.

Seit dem Jahr 2000 bis Anfang 2008 hat nach Angaben der Welternährungsorganisation FAO in den Industrieländern die Nachfrage nach Getreide zur Herstellung von Nahrungsmitteln und Futter um vier bzw. sieben Prozent zugenommen, für die Produktion von Agrartreibstoffen sogar um 25 Prozent. Hinzu kommt, dass Menschen mit steigendem Einkommen in Entwicklungsländern ihre Konsumgewohnheiten ändern. Sie essen weniger Reis, Weizen und Mais und mehr höherwertige Nahrungsmittel wie Fleisch, Milchprodukte, Obst und Gemüse. Zur Produktion von einem Kilogramm Fleisch werden aber mehrere Kilogramm Getreide benötigt. Das Bevölkerungswachstum in den Ländern des Südens trägt ebenfalls zur Steigerung der Nachfrage bei. Zugleich gingen in den USA im Jahr 2007 30 Prozent des Maisertrages in die Ethanol-Produktion und standen damit nicht als Nahrungsmittel zur Verfügung.

Diese Veränderungen bei Angebot und Nachfrage werden von Produktionseinbrüchen, etwa infolge der Dürre in Australien, sowie von weltweit schrumpfenden Getreidevorräten verschärft. In einer solch angespannten Lage reagieren die Märkte nervös, was wiederum handelspolitische Überreaktionen und Spekulationen an den Terminmärkten anheizt. Die Handelsbeschränkungen, die viele Länder aufgrund der Preissteigerungen verhängt haben, engen das Angebot weiter ein, üben zusätzlichen Druck auf die Preise aus und untergraben das Vertrauen in die Stabilität des internationalen Agrarhandels.

Die Erschließung neuer Quellen von Agrartreibstoffen wie Ethanol und Bio-Diesel hat deutliche Auswirkungen auf die landwirtschaftlichen Preise, da weitgehend Kulturpflanzen genutzt werden, die auch als Nahrungsmittel verwendet werden. Selbst wenn das einmal nicht mehr der Fall sein wird, konkurrieren Nahrungsmittel-Anbauflächen mit Treibstoff-Anbauflächen. Das International Food Policy Research Institute hat die jüngsten Entwicklungen bei Angebot und Nachfrage und die gegenwärtigen Pläne für weitere Investitionen in Agrartreibstoffe analysiert. Danach sind die Preise für Mais aufgrund der zunehmenden Nutzung für Biosprit um 20 bis 30 Prozent gestiegen. Agrartreibstoffe haben den Landwirtschafts- und den Energiesektor neu verflochten und neue Wettbewerbssituationen zwischen Energie- und Nahrungsquellen geschaffen.

Es gibt Alternativen zur Biosprit-Produktion auf Getreidebasis, die sich weniger schädlich auf die Menschen und die Umwelt auswirken, etwa die Herstellung von Agrotreibstoffen aus landwirtschaftlichen Nebenprodukten wie Sweet-Sorghum oder aus Kulturen, die auf kargen Böden wachsen wie Jatropha. Auf diesem Feld könnten sich Industrie- und Entwicklungsländer künftig Innovationen teilen, die zu globaler Nachhaltigkeit beitragen. Da sich die Mehrzahl der Patente für Agrartreibstoffe in den Händen der Privatwirtschaft befindet, ist dies ein viel versprechender Bereich für öffentlich-private Partnerschaften.

Der Anstieg der Lebensmittelpreise wirkt sich von Land zu Land und für verschiedene Bevölkerungsgruppen unterschiedlich aus. Netto-Exporteure von Nahrungsmitteln werden von verbesserten Handelsbedingungen profitieren. Allerdings verpassen einige Länder diese Gelegenheit, da sie Ausfuhrbeschränkungen zum Schutz ihrer Verbraucher erlassen haben. Netto-Importeure von Nahrungsmitteln werden jedoch Mühe haben, ihre inländische Nachfrage zu befriedigen. Dies trifft auf fast alle afrikanischen Länder zu. Anpassungen in der ländlichen Wirtschaft, die neue Einkommensmöglichkeiten und höhere Löhne schaffen könnten, benötigen Zeit, bis sie die Armen erreichen.

Mangel- und Unterernährung nehmen zu

Von den privaten Haushalten leiden vor allem die Armen, die ohnehin schlecht ernährt sind, unter den explodierenden Lebensmittelpreisen. Nur wenigen armen Haushalten, die nebenbei Nahrungsmittel am Straßenrand oder auf dem Markt verkaufen, kommen die höheren Preise zugute. Die überwiegende Mehrheit muss Grundnahrungsmittel einkaufen. Sie reagieren auf Preissteigerungen, indem sie weniger oder minderwertige Nahrungsmittel kaufen. Selbst wenn sie sich noch ausreichend Essen leisten können, wird ihre Kost immer unausgewogener. Die Folge ist Mangelernährung, weil Vitamine und Spurenelemente fehlen. Bei Schwangeren, Müttern und Kleinkindern kann das langfristige Gesundheitsschäden verursachen. Da die Kosten für Lebensmittel in armen Haushalten zudem einen großen Teil ihrer gesamten Ausgaben ausmachen, können Preissteigerungen für sie dramatische Folgen haben. Viele müssen sich verschulden und geraten damit in einen Teufelskreis größerer Abhängigkeit.

Die komplexen Ursachen der Nahrungsmittel- und Agrarkrise erfordern umfassende Reaktionen – kurzfristig und auf längere Sicht. Im Rahmen eines Nothilfe-Paketes sollten zunächst die Soforthilfe und die humanitäre Hilfe ausgebaut werden. Die Institutionen, die heute sofort helfen können, müssen mit den notwendigen Mitteln ausgestattet werden. Nationale Hilfsorganisationen können auf plötzlich auftretende Naturkatastrophen gut reagieren, sind jedoch für eine Preiskrise, die sich langsam entwickelt, nicht gerüstet. Das muss sich ändern. Diese Programme sollten sich auf die Ärmsten und auf die Ernährung von Kindern konzentrieren.

Die Exportverbote für Nahrungsmittel müssen beseitigt werden, zumindest für die humanitäre Hilfe. Dadurch könnten die Getreidepreise um bis zu 30 Prozent gesenkt und Preisschwankungen verringert werden. Diese Maßnahmen würden in Asien, in Afrika südlich der Sahara und in Zentralamerika rasch eine günstige Wirkung zeigen. Ferner sind Starthilfeprogramme notwendig, die die landwirtschaftliche Produktion zügig erhöhen. Vor allem afrikanische Kleinbauern sollten umgehend gutes Saatgut, Dünger und Kredite erhalten.  

Garantierte Mindestpreise, die sich an den langfristigen internationalen Marktpreisen orientieren, könnten unterstützend wirken. Desgleichen sollten die ärmsten der armen Länder zeitlich befristete Subventionen für Saatgut, Dünger, Elektrizität, Bewässerungssysteme und Wasser bekommen. Die Bedingungen für den Ausstieg aus solchen Starthilfen, die speziell auf Afrika südlich der Sahara und einige asiatische Entwicklungsländer zugeschnitten wären, sollten zuvor festgelegt werden. Um kurzfristig das Angebot an Getreide und Ölsaaten für Nahrungsmittel zu erhöhen, sollte außerdem die Produktion von Agrartreibstoffen auf dem gegenwärtigen Niveau eingefroren oder zeitweise ganz eingestellt werden. Ein Moratorium würde die Marktpreise für Mais um etwa 20 Prozent und die für Weizen um 8 Prozent reduzieren. Diese Maßnahmen müssten vor allem von den OECD-Staaten getragen werden.

Ergänzend zur kurzfristigen Hilfe müssen die Widerstandsfähigkeit armer Länder gegenüber Preisschwankungen auf dem globalen Lebensmittelmarkt und die nachhaltige Landwirtschaft gefördert werden. Die großen Getreideproduzenten sollten sich darauf einigen, einen Mindestvorrat zu lagern, und diesen koordiniert einsetzen, wenn es Notlagen erfordern oder die Preise stark steigen.

Die Konvention über die Nahrungsmittelhilfe wird derzeit neu verhandelt. Sie sollte künftig mehr auf Bargeld setzen als bisher. Der Internationale Währungsfonds könnte Ländern, die in Notlage geraten, bei der Importfinanzierung zur Seite stehen. Eine solche Koordination würde die Märkte stabilisieren sowie Preisschwankungen und Spekulationen verringern.

Mehr Forschung und Investitionen sind nötig

Unabdingbar ist der Ausbau beziehungsweise die Einführung von sozialen Sicherheitssystemen in den Entwicklungsländern. Sie schützen die Armen gegen das Risiko von Preissteigerungen und wirken präventiv, indem sie langfristige Schäden aufgrund von Hunger und Mangelernährung verhindern. Im Rahmen solcher Programme erhalten arme Familien Bargeld von der Regierung mit bestimmten Auflagen, beispielsweise unter der Bedingung, dass sie ihre Kinder zur Schule oder regelmäßig zur medizinischen Untersuchung schicken.

Die gegenwärtige Krise bietet auch die Chance, die Landwirtschaft zu reformieren und damit langfristig widerstandsfähiger zu machen. Die internationale Gemeinschaft muss ihre Investitionen aufstocken. Für ein nachhaltiges Wachstum der Landwirtschaft müssen vor allem der Marktzugang, die Agrarwissenschaften und die Agrartechnologie verbessert werden. Indien, China und Brasilien müssen ihre Forschungsausgaben weiterhin auf einem hohen Niveau halten und die Resolution der afrikanischen Staatschefs, 10 Prozent ihres Staatshaushalts in die ländliche Entwicklung zu investieren, muss umgesetzt werden. Die angestrebte nachhaltige Erhöhung des Angebots muss alle Glieder der Nahrungsmittelversorger und auch den privaten Sektor einschließen.

Die derzeitige Situation bietet nicht zuletzt die Chance, die Doha-Entwicklungsrunde abzuschließen und überfällige Veränderungen vorzunehmen. Entwicklungsländer müssen besseren Zugang zum internationalen Markt erhalten und Exportsubventionen der Industrieländer sollten weiter abgebaut werden. Die Welthandelsorganisation und die OECD-Länder sind gefordert, solche Reformen durchzusetzen, die vielen Ländern Vorteile bringen.

Die genannten Maßnahmen erfordern Zusammenarbeit auf globaler und regionaler Ebene. Die letzte Verantwortung für die Agrarpreise bleibt jedoch im jeweiligen Land. Sie sollten unverzüglich verwirklicht werden – aus humanitären und wirtschaftlichen Gründen, aber auch im Interesse der politischen Stabilität und Sicherheit.  

Joachim von Braun  ist Direktor des International Food Policy Research Institute in Washington DC.

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erschienen in Ausgabe 6 / 2008: Welternährung
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