„Wenn wir Widerstand leisten müssen, sollten wir das tun“

Seit 1991 regiert Ministerpräsident Meles Zenawi Äthiopien mit eiserner Hand. Regierungsgegner werden unterdrückt, die Presse darf nicht frei berichten und zivilgesellschaftliche Organisationen werden streng kontrolliert. Westliche Geber und Hilfsorganisationen beeindruckt das offensichtlich kaum: Das Land am Horn von Afrika erhält mehr Entwicklungshilfe denn je. Es ist ein Hohn, sagt der Oppositionspolitiker Berhanu Nega, dass der Westen mit Meles kooperiert und glaubt, damit der äthiopischen Bevölkerung zu helfen.

Wie beurteilen Sie das Regime von Meles Zenawi?

Es ist ohne Zweifel eine Diktatur, sogar nach afrikanischen Standards. Außer für die Regierungspartei gibt es kaum politischen Spielraum - etwa um politische Ansichten in die öffentliche Debatte einzubringen, mit Blick auf die Meinungs- und Pressefreiheit, um sich als zivilgesellschaftliche Gruppe zu organisieren oder um Demokratie und Menschenrechte voranzubringen. Missbrauch und Folter von Oppositionellen sind gut dokumentiert. In dieser Hinsicht ist das Regime von Meles vielleicht das schlimmste in Afrika, sogar im Vergleich zu Ländern wie Simbabwe, das der Westen eindeutiger als Diktatur einstuft. In Simbabwe hat die Opposition etwa 48 Prozent im Parlament. In Äthiopien gibt es unter 547 Abgeordneten nur einen, der sich der Opposition zurechnet.

Wie hat sich das Regime seit der Machtübernahme vor 20 Jahren verändert?

Das ist das wirklich Traurige für Äthiopien-Kenner. 1991 verhieß für viele den Beginn einer neuen Ära. Das Land befreite sich von einer brutalen kommunistischen Diktatur und die Rebellen übernahmen das Ruder. Anfangs sah es so aus, als gäbe es ein gewisses Maß an politischer Freiheit. Aber damit war nach den Parlamentswahlen 2005 Schluss. Die Regierung erkannte, dass mehr Demokratie ihr Machtmonopol beenden würde, und sie stellte klar, dass sie dieses Spiel deshalb nicht weiter mitspielen werde.

Die Wahlen 2005 waren also ein Wendepunkt?

Ja. Bis 2005 hatte die Regierung geglaubt, die Menschen unterstützten sie - weil sie das vorherige Regime beseitigt und sich geöffnet hatte, so dass die Leute sich politisch organisieren konnten. Als der Ruf nach Demokratie lauter wurde und gleichzeitig die internationale Gemeinschaft den Druck erhöhte, fühlte sich die Regierung sicher genug, den politischen Prozess etwas zu öffnen. Aber 2005 wurde ihr klar, dass sie in Wahrheit sehr unbeliebt ist. Und sie entschied, dass Gewalt der einzige Weg sei, das Land zu führen.

Wie stabil ist die Regierung? Gibt es Risse oder gar eine innere Opposition?

Erst im März hat sie eine große Zahl Parteimitglieder aus der Provinz Oromiya aus ihren Ämtern entfernt und einige ins Gefängnis geworfen. Äthiopien unterscheidet sich von anderen Diktaturen dadurch, dass hier Politik auf Ethnizität basiert. Meles hat von Beginn an die ethnische Identität als die wichtigste für Äthiopien erklärt. Die Nation ist entlang ethnischer Grenzen föderal organisiert. Das heißt, dass selbst die Regierungspartei EPRDF von ethnischen Spaltungen durchzogen ist. Meles stammt aus einer kleinen ethnischen Gruppe in Tigre, die etwa 6 Prozent der Bevölkerung ausmacht. Die beiden größten ethnischen Gruppen hingegen, die Amharen und die Oromo, vereinen 60 Prozent. Die EPRDF setzt sich zwar aus den Parteien verschiedener ethnischer Gruppen zusammen, aber sie wird klar von der Tigrischen Volksbefreiungsfront TPLF dominiert. Es gibt deshalb ständig ethnische Spannungen in der Partei.

Laut UN-Statistiken war 1990 fast die Hälfte der äthiopischen Bevölkerung extrem arm, 2009 nur noch ein Drittel. Ist das ein Erfolg von Meles?

Sobald man über die äthiopische Wirtschaft spricht, ergibt sich das Problem, inwieweit man den Zahlen trauen kann. Interessanterweise entsprachen die Wachstumsraten bis 2005 ziemlich genau dem Durchschnitt in Afrika. Die Daten zu dieser Zeit waren verlässlich. Nach 2005 aber präsentierte die Regierung plötzlich völlig andere Zahlen. Seitdem spricht Meles nur noch über ein zweistelliges Wirtschaftswachstum. Da fragt man sich: Woher kommt dieses Wachstum? Die Regierung sagt, vor allem aus der Landwirtschaft. Aber hat sich die Landwirtschaft so stark verändert? Eine Gruppe von Ökonomen der Universität Oxford wollte das herausfinden und hat sich die Zahlen genauer angesehen. Dabei sind sie auf allerlei Merkwürdigkeiten gestoßen - zum Beispiel, dass die landwirtschaftliche Produktion von 2006 bis 2008 jährlich um 12 Prozent gewachsen sein soll. Doch im selben Zeitraum haben sich die Preise für Agrarprodukte verdoppelt, und zwar nicht für Exportgüter. Normalerweise sinken die Preise aber, wenn die Produktion wächst. Von 2006 bis 2008 hat sich die Zahl der unterernährten Menschen in Äthiopien von 6 auf 13 Millionen erhöht. Laut den offiziellen Zahlen wächst die Landwirtschaft also dramatisch, zugleich aber steigen die Preise und es erhöht sich die Zahl der Menschen, die sich nicht selbst ernähren können und Hilfe aus dem Ausland brauchen. Die Oxford-Ökonomen wollten auch wissen, woher das behauptete Wachstum kommt. Gemäß den Regierungsangaben stammt es je zur Hälfte aus zusätzlicher landwirtschaftlich genutzter Fläche und einer Steigerung der Produktivität. Aus den Daten ging aber nicht hervor, dass mehr Dünger oder besseres Saatgut verwendet wurde. Oder dass die Bewässerung ausgebaut wurde. Die Ökonomen kamen deshalb zum Schluss, dass sie den Daten nicht trauen können. Kurz: Ich glaube nicht, dass die äthiopische Wirtschaft signifikant wächst, ganz bestimmt nicht die Landwirtschaft. Und ich glaube nicht, dass die Armut erheblich kleiner geworden ist.

Warum akzeptieren die westlichen Geberländer so bereitwillig die offiziellen Zahlen und loben die Regierung für ihre vermeintlichen wirtschaftlichen Erfolge?

Zum einen weil sie Erfolgsgeschichten brauchen, um die Verwendung von Steuergeldern zu rechtfertigen. Sie wollen zeigen, dass ihre Hilfe etwas bewirkt. Zum anderen weil die Entwicklungshilfe heute eine Industrie ist; mit Philanthropie hat das nichts mehr zu tun. Das Leben vieler Menschen hängt von derlei Erfolgsgeschichten ab. Wenn Sie einen Mitarbeiter der Weltbank fragen, wird er Ihnen sagen: „Naja, an die 11 Prozent Wachstum glauben auch wir nicht. Vielleicht sind es 5 Prozent, aber das ist okay."

Sollten die Geber stärker auf politische Reformen drängen?

Ja. Sie sollten den Regierungen der Entwicklungsländer nicht wirtschaftliche Vorgaben wie die Liberalisierung der Märkte machen und eine bestimmte Politik vorschlagen, sondern ihnen klarmachen, dass Politik auf gesellschaftlichen Debatten beruht, so wie im Westen. Und sie sollten ihnen erklären, dass sie ihren Bürgern verantwortlich sind. Die Leute müssen die Freiheit haben, über die Probleme ihrer Gesellschaft und über Lösungswege zu diskutieren. Das Wichtigste für Entwicklung ist Freiheit.

Was Meles offensichtlich anders sieht. Sollten die Geber deshalb die Hilfe für Äthiopien einstellen?

Ja, so lange es keine Reformen gibt, sollte es keine Hilfe außer Nothilfe geben. Autoritäre Regime können hier und da durchaus wirtschaftliches Wachstum erzielen. Aber in dem Moment, in dem sie zusammenbrechen, bricht auch die gesamte gesellschaftliche Ordnung zusammen. Die Erfahrung lehrt uns, dass es ohne Stabilität keine Entwicklung gibt. Und langfristig gibt es keine Stabilität ohne Demokratie.

Aber Meles hat China als Vorbild: wirtschaftlich erfolgreich, aber nicht demokratisch.

Zumindest in Afrika ist das Gerede vom Entwicklungsstaat absolut hohl. Praktisch jede Regierung seit dem Ende der Kolonialzeit hat für sich beansprucht, „entwicklungsorientiert" zu sein, - und zugleich den Leuten ihr Geld gestohlen und die Wirtschaft ruiniert. Wenn die Geschichte irgendetwas zeigt, dann dies: Nahezu alle reichen Länder der Welt sind Demokratien. Die Rede vom Entwicklungsstaat ist eigennütziger Unsinn. Aber der Westen akzeptiert das, weil er keine Kunden mehr hätte, wenn er von den Regierungen der Entwicklungsländer mehr Demokratie verlangen würde. Die Weltbank würde dichtmachen, gäbe es das Kriterium, dass Regierungen verantwortlich handeln müssen.

Die westlichen Geber, aber auch nichtstaatliche Hilfsorganisationen argumentieren, dass China einspringen und ohne jede Bedingungen Geld geben würde, wenn sie Äthiopien verließen.

Das ist ein komisches Argument. Es geht so: Äthiopien ist eine Diktatur. Aber wenn wir gehen, kommt China, und Äthiopien wird noch diktatorischer. Deshalb bleiben wir, weil unsere Diktatur besser ist als die Chinas. Abgesehen davon gibt China keine Hilfe, sondern Kredite und baut Infrastruktur. Die 3,9 Milliarden US-Dollar, die Meles 2009 bekommen hat, kommen vom Westen. Die Regierungen des Westens zahlen die Zeche.

Hilfsorganisationen sagen, dass die Arbeit in Äthiopien dazu beitragen kann, das Regime etwas demokratischer zu machen.

Schauen wir uns die Bilanz an: 2005 war Äthiopien demokratischer als heute. Es gab Wahlen, die offensichtlich von der Opposition gewonnen wurden. 2010 hingegen gab es eine Mehrheit von 99,6 Prozent für Meles. 2005 gab es unabhängige Medien, heute sind sie nahezu vollständig verschwunden. 2005 konnten Journalisten und NGOs unbehelligt arbeiten. Heute haben wir ein Mediengesetz, das Gespräche mit Regierungsgegnern unter Strafe stellt. Und wir haben ein NGO-Gesetz, das es verbietet, unabhängig zu Themen wie politischer Freiheit oder Menschenrechte zu arbeiten. Wenn das konstruktive Engagement der Hilfsorganisationen Verbesserungen bringen soll - wo sind sie? Wirklich schlimm ist, dass sich die Entwicklungshilfe in diesem Zeitraum mehr als verdoppelt hat. Ich bin nicht gegen Nothilfe im Katastrophenfall. Aber es muss jede Hilfe eingestellt werden, die lediglich diese Regierung stützt. Mit dieser Regierung Geschäfte zu machen und anzunehmen, damit helfe man der äthiopischen Bevölkerung, ist der reinste Hohn.

Aus welchen Gruppen setzt sich die Opposition zusammen?

Man kann drei Arten von Opposition unterscheiden: Zum einen gibt es registrierte Gruppen in Äthiopien. Einige davon betreiben ernsthaft Opposition, andere sind von der Regierung geschaffen, um politische Vielfalt vorzugaukeln. Zum anderen gibt es Gruppen, die im Ausland arbeiten. Sie sind verboten und mobilisieren im Geheimen Menschen in Äthiopien und im Ausland. Drittens gibt es bewaffnete oppositionelle Gruppen, die teilweise einer bestimmten Ethnie zuzurechnen sind, teilweise zu multiethnischen Parteien gehören, die für Demokratie kämpfen.

Wie einig ist sich denn die Opposition?

Unter dem Eindruck der Ereignisse in Nordafrika wächst in oppositionellen Gruppen die Einsicht, dass man kooperieren und eine gemeinsame Vision für die Zeit nach Meles braucht. Ich rechne damit, dass es in nicht allzu ferner Zukunft ein breites Oppositionsbündnis geben wird.

Gibt es unterschiedliche Ansichten darüber, ob man die Regierung auch gewaltsam bekämpfen sollte?

Ja. Es gibt Gruppen, die glauben, dass man dieses gewalttätige Regime nicht mit zivilen Mitteln stürzen kann. Andere hingegen sagen, dass Gewalt nur zu noch mehr Blutvergießen führt. Allerdings trifft die Entscheidung für oder gegen Gewalt nicht allein die Opposition. Tatsächlich wird sie ihr von der Regierung aufgezwungen. Meine Position ist, dass man sich nicht auf eine bestimmte Strategie festlegt. Wir würden es vorziehen, das Regime mit friedlichen Mitteln zu beenden. Aber wir sollten nicht davon ausgehen, dass das unsere einzige Option ist. Wenn wir Widerstand leisten müssen, sollten wir das tun. Denn letzten Endes wollen wir frei sein.

Das Gespräch führte Tillmann Elliesen.


Berhanu Nega
zählt zu den wichtigsten Oppositionellen Äthiopiens. 2005 war er der erste frei gewählte Bürgermeister der Hauptstadt Addis Abeba. Im selben Jahr warf ihn die Regierung für zwei Jahre ins Gefängnis. 2009 verurteilte ihn ein Gericht in Abwesenheit zum Tode. Berhanu Nega lebt seit vier Jahren in den USA, lehrt Wirtschaftswissenschaften an der Bucknell University in Lewisburg und ist Vorsitzender des Oppositionsbündnisses Ginbot 7.

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erschienen in Ausgabe 6 / 2011: Wir konsumieren uns zu Tode
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