Entwicklungshilfe: Welche Rolle für Staat und Zivilgesellschaft?

Der „Bonner Aufruf“ fordert eine andere Entwicklungspolitik, seine Kritiker erkennen darin kein Konzept

Streitgespräch zwischen Dirk Messner und Winfried Pinger

„Eine andere Entwicklungspolitik“ forderte Anfang September ein Kreis von Fachleuten in einem „Bonner Aufruf“, der bis Oktober knapp 50 Unterzeichner gefunden hat (www.bonner-aufruf.eu). Die Autoren stellen fest, das die Ergebnisse eines halben Jahrhunderts Entwicklungshilfe für Afrika weit hinter den Erwartungen zurückgeblieben seien. Ein Grund dafür sei, dass die Hilfe die Eigeninitiative der Menschen weitgehend zerstört habe. Winfried Pinger, einer der Initiatoren des Aufrufs, erläutert, warum Entwicklungshilfe vorrangig an die Zivilgesellschaft in den Entwicklungsländern und nicht an die Regierungen fließen sollte. Dirk Messner, der Direktor des Deutschen Instituts für Entwicklungspolitik (DIE), entgegnet, Entwicklung sei ohne Zusammenarbeit mit dem Staat nicht machbar.

Laut „Bonner Aufruf“ hat die Entwicklungspolitik in Afrika versagt. Herr Messner, sehen Sie das auch so?

Messner: Es gibt viele Baustellen, deshalb sind Reformen notwendig. Aber der Aufruf umschreibt eher ein Programm für eine größere nichtstaatliche Organisation (NGO) als für die öffentliche Entwicklungszusammenarbeit. Diese hat ein breiteres Aufgabenfeld, und das kommt mir in dem Aufruf viel zu kurz.

Pinger: Mehr als 80 Prozent unserer öffentlichen Entwicklungshilfe fließen in den staatlichen Bereich und damit häufig in ineffiziente und korrupte Strukturen. Bei den Menschen in den Entwicklungsländern kommt zu wenig an. Wir sind der Meinung, dass das Verhältnis umgekehrt werden muss. Für die Verbesserung der Rahmenbedingungen genügen 20 Prozent des Geldes. 80 Prozent müssen für die Hilfe zur Selbsthilfe der Menschen vor Ort eingesetzt werden.

Messner: Die Frage ist doch, wie wir erreichen, dass die Mittel bei den Menschen ankommen und entwicklungsfreundliche Rahmenbedingungen entstehen. Mir scheint, Ihr Aufruf plädiert letztlich für eine Rückkehr zur klassischen Projekte-Politik. In den vergangenen vier Jahrzehnten hat sich aber gezeigt, dass die Summe von Entwicklungsprojekten sich nicht in Entwicklung übersetzt. Im Gegenteil: Die Vielzahl von Projekten ist in vielen Ländern zum Problem geworden.

Herr Pinger, wollen Sie zu dem zurück, was man früher „Projektitis“ genannt hat?

Pinger: Nein. Projektitis hat man die von der Regierung organisierte kleinteilige Entwicklung genannt. Die musste scheitern, weil es nicht die Aufgabe eines Staates sein kann, ein Land zu entwickeln. Es kommt darauf an, die Selbsthilfegruppen der Menschen und der kleinen Wirtschaft in den Entwicklungsländern zu stärken. Solche Selbsthilfe-Förderung von unten ist das Gegenteil der „Projektitis“ von oben.

Ist in der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit das Risiko tatsächlich höher, dass nichts bei den Menschen ankommt?

Messner: Eine beachtliche Zahl von Ländern in Afrika, etwa Mauritius, Ghana, Senegal, Mali, Malawi und Burkina Faso, werden ordentlich regiert. Deren staatliche Strukturen sollten wir unbedingt fördern. Probleme wie eine schlechte Infrastruktur, fehlende Bildungsangebote und zunehmende Wasserknappheit lassen sich über NGOs und ländliche Selbsthilfeorganisationen allein nicht lösen. Wir brauchen leistungsfähige Staaten und Zivilgesellschaften sowie eine demokratische Kontrolle, damit Entwicklung funktioniert.

Pinger: Natürlich ist es besonders wichtig, gut regierten Staaten etwa durch Berater zu helfen. Aber dafür brauchen wir höchstens 200 Millionen Euro von insgesamt mehr als fünf Milliarden Euro öffentlicher deutscher Entwicklungshilfe.

Messner: 200 Millionen Euro für die Schaffung von Rahmenbedingungen für zwei Milliarden Menschen mit weniger als zwei Dollar am Tag? Da kommen wir nicht weit. Und was machen Sie mit dem Geld, das Sie in direkter Hilfe anlegen wollen? Wollen Sie das in viele einzelne Projekten investieren? Ich glaube, dass die staatlichen Akteure in manchen Bereichen weiter sind als die NGOs. Sie haben erkannt, dass die Belastung aus einer Vielzahl unkoordinierter Projekte oft größer ist als ihr Nutzen. In den NGOs haben wir diesen Punkt noch nicht erreicht. Die Deutsche Welthungerhilfe diskutiert deshalb, ob man nicht eine Paris-Agenda für NGOs bräuchte. Wo also soll das Geld hin, wenn Sie es nicht in einzelne Projekte investieren wollen?

Pinger: Wenn der Staat sich darum kümmert, ist es auf jeden Fall verfehlt.

Messner: Auch in den Ländern, die gut regiert werden?

Pinger: Aber ja. Es ist nicht die Aufgabe des Staates, weder bei uns noch in Entwicklungsländern, sich um die Entwicklung vor Ort zu kümmern. Das ist Sache der Menschen selbst, der Handwerker, der Kleinbauern und Gewerbetreibenden. Wenn  Hilfswerke das unterstützen wollen, müssen sie die vielen kleinen Selbsthilfeorganisationen finden und fördern.

Messner: Es wundert mich, dass der Bonner Aufruf nicht auf die Paris-Erklärung eingeht. Sie verpflichtet Geber und Nehmer auf Strategien und Ziele, um die Wirksamkeit der Entwicklungshilfe überprüfbar zu steigern. Das erzeugt gegenseitige Verantwortlichkeit. Dagegen schieben wir uns im Moment immer nur gegenseitig den schwarzen Peter zu: Die Partner verweisen auf die Dominanz der Geber, wenn die Reformen schief gehen, wir auf die schlechte Regierungsführung der Partner  – das ist organisierte Unverantwortlichkeit.

Pinger: Eine Entwicklungshilfe, die darauf setzt, dass der Staat für Entwicklung zuständig ist, wird nicht dadurch besser, dass man sie vermeintlich effizienter gestaltet. Wenn ich in der Sackgasse bin, hat es keinen Zweck, Gas zu geben. Dann muss ich zurück fahren. Die Paris-Agenda will ein falsches System verbessern und wird deshalb nichts bringen. Und was eine Paris-Agenda für NGOs betrifft: Eine staatlich verordnete Koordinierung würde nicht funktionieren. Die Organisationen sollten aber selbst dafür sorgen, dass es keine Doppelarbeit gibt.

Also brauchen wir doch keine Paris-Agenda für die NGOs?

Messner: Doch, unbedingt. Die NGOs sind ja nicht per se besser als die öffentlichen Agenturen. Auch sie ziehen sich nur ungern aus Ländern und Sektoren zurück, in denen sie einmal Fuß gefasst haben. Denn in vielen Ländern drin zu sein, heißt wichtig zu sein. Dieses Problem haben wir sowohl bei öffentlichen als auch bei privaten Hilfsorganisationen.

Herr Pinger, ist die Gefahr, dass Geld versickert, nicht noch größer, wenn man es an viele kleine Organisationen verteilt?

Pinger: Die Gefahr besteht. Es ist schädlich, mit der Gießkanne übers Land zu gehen oder Almosen zu verteilen. Aber organisierte Handwerker, Kleinbauern, Marktfrauen und Gewerbetreibende gibt es überall. Man muss herausfinden, welche spezielle Förderung zur Selbsthilfe sie brauchen.

Messner: Ich halte es nicht für sinnvoll, staatliche Strukturen und zivilgesellschaftliche Initiativen gegeneinander auszuspielen. Länder wie Chile, Taiwan oder Südkorea, die vor 30 oder 40 Jahren noch viel ärmer waren, unterscheidet vom Tschad oder von Namibia, dass sie leistungsfähige Institutionen haben. Dort herrschen Rahmenbedingungen, die Anreize schaffen für Bürger, sich produktiv in die wirtschaftliche, soziale und gesellschaftliche Entwicklung einzumischen. Dynamische Gesellschaften müssen staatliche Strukturen und zivilgesellschaftliches Engagement miteinander verbinden. In Ruanda wird beispielsweise gerade ein neues Steuersystem aufgebaut. Die Ruander werden in Europa qualifiziert, damit sie danach eine Steuerbehörde leiten können. Zudem wird ein Rechnungshof eingerichtet, um die öffentlichen Ausgaben zu kontrollieren.

Pinger: Ich frage mich nur, wie viel Geld wir für solche Aufgaben brauchen. Da genügen doch 100 oder 200 Millionen Euro. Es geht darum, welche Schwerpunkte wir setzen. Seit 40 Jahren proklamieren wir Hilfe zur Selbsthilfe, aber in der staatlichen Entwicklungszusammenarbeit ist das nie wirklich praktiziert worden. Das muss geändert werden. Ein Beispiel ist der Zugang der Armen zu Finanzdienstleistungen wie Krediten.  Mikrokreditorganisationen wie die Grameen-Bank oder die Organisation BRAC in Bangladesch versorgen Millionen Kunden mit Mikrokrediten und ermöglichen ihnen damit, ein eigenes Einkommen zu erwirtschaften. Die deutsche Entwicklungspolitik unterstützt solche Ansätze mit nicht einmal 2,5 Prozent ihrer Mittel. Das ist viel zu wenig. Das hätte man längst verdoppeln oder verdreifachen müssen. Der Gründer der Grameen-Bank, Mohamed Yunus, hat uns Deutschen Hilfe beim Aufbau von Mikrofinanzorganisationen in Afrika zugesagt. Und die deutsche Entwicklungspolitik reagiert nicht.

Messner: Ich bin ein großer Freund von Mikrokrediten. Aber sie ersetzen kein funktionierendes Finanzsystem. Durch klein­skalige Finanz- und Sozialpolitik, die ich richtig finde ...

Pinger: ... das ist keine Sozialpolitik. Yunus sagt: „Es geht nicht um Almosen, sondern um produktive Tätigkeiten.“ Mikrofinanz ist keine soziale Vergünstigung, sondern entwicklungspolitische finanzielle Grundversorgung für alle gegen kostendeckende Zinsen bei über 98 Prozent Rückzahlungsquote.

Messner: Aber Yunus behauptet nicht, dass man mit Mikrokrediten die Entwicklungsprobleme der Länder lösen kann. Sie brauchen beispielsweise Anpassungsmaßnahmen gegen den Klimawandel wie Küstenschutz gegen den Anstieg der Meeresspiegel. Dafür ist Geld nötig, das mit staatlicher Initiative verbunden werden muss. Das ist kein Gegensatz zur Sozialpolitik für die Ärmsten. Die Graswurzel-Bewegung mobilisiert Eigeninitiative, die von unten in die Strukturen hineinwächst. Mir fällt kein Land ein, das allein mit der Stärkung von Selbsthilfeorganisationen dynamische Entwicklung erreicht hätte.

Pinger: Ich spreche nicht von Graswurzel-Initiativen, sondern von 80 Prozent der Wirtschaft in einem Entwicklungsland. Man muss unten ansetzen. Bangladesch beispielsweise ist ein korruptes Land, trotzdem ist Entwicklung möglich – durch Mikrokredite für Millionen.

Messner: In Bangladesch funktioniert Entwicklung im Vergleich zu Uganda auch deshalb, weil sich das Land in die internationale Arbeitsteilung eingliedert. Die Textil-Exporte nach Indien und China sind enorm gestiegen. Der Motor der Entwicklung sind die rasant steigenden Exporte von kleinen Unternehmen, die zum Teil Mikrokredite bekommen, zum Teil sich ihre finanziellen Mittel woanders besorgen und ihre Exportstrategie stärken. Das kann Uganda nicht nachmachen, weil es keinen Zugang zum Meer hat. Abgesehen davon: Es gibt nicht nur Staatsversagen. Es gibt auch Martkversagen und das Versagen von Zivilgesellschaft. In vielen Ländern machen NGOs Projekte, die mit den Bedürfnissen der Menschen nichts zu tun haben. Eine Gesellschaft braucht alle drei Bereiche – Staat, Markt, Zivilgesellschaft. Deshalb müssen wir uns für alle drei Strategien überlegen. Und wir müssen zwischen verschiedenen  Ländergruppen unterscheiden. Das kommt mir in dem Aufruf zu kurz. Wir haben es doch einerseits mit Gesellschaften zu tun, über die international Einigkeit besteht, dass sie demokratisch legitimierte Regierungen haben, deren Reformweg unterstützt werden muss. Andererseits haben wir Länder, in denen es gar keine Staaten mehr gibt. Sollen wir in diesen Ländern etwa nur mit nichtstaatlichen Kräften arbeiten?

Pinger: Mit wem denn sonst?

Messner: In Ländern wie Somalia müssen wir uns doch Gedanken darüber machen, wie wir staatliche Strukturen und künftige Eliten wieder fördern können, um Bürgerkriege zu beenden. Ziel muss es sein, die Staatenlosigkeit, die ein internationales Sicherheitsproblem darstellt, zu überwinden. Da kommen wir allein mit der Arbeit über NGOs nicht weiter.

Pinger: Wie soll es denn gelingen, von außen in gescheiterten Staaten wieder staatliche Strukturen zu errichten? Die Strukturen können nur von unten, von der Zivilgesellschaft, aufgebaut werden. Die Menschen wollen überleben, und wir müssen ihre Wirtschafts- und Produktionskraft stärken. Erst wenn es eine gestärkte Zivilgesellschaft gibt, können wir helfen, staatliche Strukturen zu schaffen.

Herr Messner, zeigt das Beispiel Afghanistan nicht, dass es vergeblich ist, Staaten von außen aufbauen zu wollen?

Messner: Wir brauchen Geduld, Zeit und Geld. Weltweit gibt es 30 fragile oder scheiternde Staaten. Die Vorstellung, in  wenigen Jahren aus einer scheiternden eine funktionierende Gesellschaft zu machen, war naiv. Im Übrigen haben wir in Afghanistan vor Augen geführt bekommen, dass die Vielzahl der staatlichen und privaten Akteure den Verwaltungen und den Gebern das Leben schwer macht und wir eine radikale Reduzierung der entwicklungspolitischen Akteure vor Ort brauchen.

Pinger: Ich bin entschieden anderer Meinung. Wir brauchen die Vielzahl der Akteure, die den Kontakt zu den Menschen haben. Wir müssen alles tun, was den Menschen hilft, sich selbst zu helfen.

Das Gespräch moderierten Tillmann Elliesen und Gesine Wolfinger.

Winfried Pinger ist Mitinitiator des „Bonner Aufrufs“ und Vorsitzender der „Aktion 2015“ zur Förderung der Millenniumentwicklungsziele. Von 1982 bis 1998 war er entwicklungspolitischer Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion.

Dirk Messner ist Direktor des Deutschen Instituts für Entwicklungspolitik (DIE) in Bonn und Professor für Politikwissenschaften an der Universität Duisburg-Essen.

welt-sichten 10-2008

 

erschienen in Ausgabe 10 / 2008: Klimaschutz: Welche Instrumente wirken?
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