Der schöne Schein der Zahlen

Der schöne Schein der Zahlen

Statistiken über den Kampf gegen Armut und Not sind mit großer Vorsicht zu genießen

Von Karl-Albrecht Immel

Im April legt die Weltbank neue Daten zur Armut in der Welt vor. Sie dürften zeigen, dass der Anteil der extrem Armen gegenüber 1990 bis zum Jahr 2015 halbiert werden kann. Andere Statistiken weisen weniger Aidskranke und eine geringere Kindersterblichkeit aus. Doch oft verbergen sich statistische Tricks hinter solchen Erfolgsmeldungen.

Bekanntlich soll man keiner Statistik trauen, die man nicht selbst gefälscht hat. Die Armutsstatistiken der Weltbank bestätigen eindrucksvoll diese Mathematikerweisheit.

Wie viele Menschen leben in extremer Armut? Um das festzustellen, definiert die Weltbank eine globale Einkommensgrenze für absolute Armut und bestimmt dann die Zahl derer, die weniger zur Verfügung haben. Die Grenze legte sie 1990 auf rund einen US-Dollar pro Person und Tag – angelehnt an die nationalen Armutsgrenzen in den ärmsten von 33 Ländern. 1990 lebten rund 1,2 Milliarden Menschen unterhalb dieses Grenzwerts, vor allem in Südasien und Afrika.

Doch ein Dollar ist nicht gleich ein Dollar. Die Umrechung der lokalen Währung in US-Dollar geschieht mit Hilfe von Kaufkraftparitäten (Purchasing Power Parities, PPP). Dazu wird ermittelt, wie viel sich jemand in den USA von einem Dollar kaufen kann und wie viel der entsprechende Warenkorb in einem anderen Land kostet. Bekommt man dort zum Beispiel für einen US-Dollar – beziehungsweise für dessen Gegenwert in einheimischer Währung nach dem offiziellen Wechselkurs – vier Mal so viele Waren, dann ist der Kaufkraftfaktor vier, und die Grenze der absoluten Armut liegt nach dem Wechselkurs bei 25 US-Cent. Denn dafür kann man sich in dem betreffenden Land dasselbe kaufen wie in den USA für einen Dollar. Solche PPP-Umrechnungsfaktoren werden für alle Länder errechnet. Die Basis für die Statistik des Jahres 1990 war die Kaufkraft eines Dollars im Jahr 1985.

Je nach Wechselkursänderungen und je nach Inflationsraten in den verschiedenen Ländern muss diese Auflistung immer wieder aktualisiert werden. Willkürlichen Festlegungen ist dabei Tür und Tor geöffnet: Welcher Warenkorb wird zugrunde gelegt? Den Ärmsten nützt es zum Beispiel nichts, wenn Computer oder Frisörbesuche relativ billig sind, Brot aber teuer. Wie werden die Inflationsraten bemessen? Als zum Beispiel 1999 ein neues Basisjahr – 1993 – festgelegt wurde, stieg die Armutsgrenze um ganze 8 Prozent auf 1,08 Dollar, obwohl die Inflation in den USA zwischenzeitlich bei 34 Prozent gelegen hatte.

Thomas Pogge und Sanjay Reddy haben vor ein paar Jahren auf solche Ungereimtheiten aufmerksam gemacht. Darauf hat die Weltbank reagiert: Ende 2007 legte ihr „International Comparison Program“ die bisher aufwändigste weltweite Erhebung zu Kaufkraftparitäten vor. Basisjahr der neuen Kaufkraftberechnung ist 2005. Erstmals gibt es nun direkte Daten aus einigen chinesischen Provinzen und zum ersten Mal seit 1985 hat Indien wieder Zahlen geliefert – mit überraschenden Ergebnissen: Die Kaufkraft des chinesischen Renminbi wird jetzt um 40 Prozent niedriger angesetzt als zuvor und die der indischen Rupie um rund ein Viertel – sie wird nicht mehr mit dem vierfachen, sondern nur noch mit dem dreifachen des offiziellen Wechselkurses verrechnet. Entsprechend werden jetzt zum Beispiel die in PPP-Dollars angegebenen Bruttosozialprodukte Chinas und Indiens niedriger eingeschätzt.

Dies müsste eigentlich dazu führen, dass die aktuelle Zahl der Armen in beiden Ländern stark steigt. Nach den Erfahrungen bei der letzten Umstellung auf ein neues Basisjahr ist zu befürchten, dass die Weltbank dennoch Erfolgszahlen melden wird, wenn im April im Rahmen der „World Development Indicators“ die neue Armutsstatistik veröffentlicht wird. Mit der tatsächlichen Lage der Armen hat das freilich nicht viel zu tun. Das liegt nicht nur daran, dass die Armutsgrenze viel zu niedrig angesetzt ist (welcher US-Amerikaner hätte 1990 von 30 Dollar Monatseinkommen überleben können?). Viel schlimmer ist, dass die Statistiken nicht einmal klare Trendaussagen, etwa Vergleiche zwischen 1990 und heute, zulassen.

Am Beispiel Indien lässt sich das veranschaulichen: Dort leben nach Angaben der Regierung im August 2007 rund 830 Millionen Arme von weniger als umgerechnet 17 Dollar im Monat oder, nach offiziellem Wechselkurs, 57 US-Cent pro Tag. Das sind drei Viertel der Bevölkerung. Die Weltbank betrachtet dagegen weniger als ein Drittel als extrem arm. 1990 lag die Armutsgrenze der Weltbank von einem US-Dollar pro Tag noch dicht bei der nationalen indischen Armutsgrenze, heute aber liegt sie weit darunter. Warum?

Entscheidend ist die Berechnung der Inflationsrate. Der eine US-Dollar von 1985 ist heute über 1,70 Dollar wert, wenn man die offiziellen Inflationsraten der USA oder auch die Teuerung von Grundnahrungsmitteln, Kleidung oder Mieten in den USA zugrunde legt. Der Kaufkraft-Faktor für Indien ist im Lauf der Zeit von über 5 auf 3 im Jahr 2005 gesunken und dürfte wegen der anhaltenden Aufwertung der Rupie 2007 sogar nur noch mit 2,7 angesetzt werden. Würde man also die Ein-Dollar-Grenze von 1990 realistisch auf heute übertragen und die daraus resultierenden 1,70 Dollar durch den neuen PPP-Faktor 3 teilen, dann wäre man praktisch genau bei jenen 57 US-Cent pro Tag, von denen die 830 Millionen Armen in Indien leben müssen.

Kreative Rechnungen verkleinern die Zahl der Armen

Wenn die Weltbank so verfährt wie bei der letzten Umstellung des Basisjahres für die Kaufkraftparitäten, dann wird sie einen viel geringeren Inflationsausgleich anrechnen, so dass aus dem Dollar von 1985 etwa 1,20 Dollar werden. Damit ergäbe sich eine Zahl der extrem Armen in Indien von deutlich unter 400 Millionen. Anders wäre das Millenniumsziel „Halbierung des Anteils der extrem Armen“ auch nicht zu „erreichen“. Solche kreativen Rechnungen sind kein Einzelfall: Die Umstellung auf das Basisjahr 1993 ließ seinerzeit zum Beispiel die Armutsrate in Südafrika schlagartig von 23,7 auf 11,5 Prozent sinken.

Sicher lassen sich viele Entwicklungsdaten nicht objektiv messen, und alle Definitionen von Armut haben Schwächen. Das gilt natürlich besonders, wenn sie nur durch einen Parameter – das Einkommen – definiert wird, der einigermaßen willkürlich festgelegt wird. Das Tageseinkommen von einem Dollar hat aber den Vorteil, dass man damit über längere Zeiträume Tendenzen aufzeigen könnte. Das Beispiel geschönter Inflationsraten und fragwürdiger Kaufkrafteinschätzungen zeigt aber, dass selbst eine so klar scheinende Statistik manipuliert werden kann.

Dieser kreative Umgang mit Zahlen wird noch weiter getrieben: In den „Millennium Development Goals Reports“ von 2005 und 2006 wird der Anteil der Menschen in den Entwicklungsländern, die von weniger als einem Dollar am Tag leben mussten, für das Ausgangsjahr 1990 mit 27,9 Prozent angegeben. Für das Millenniumsziel heißt das: im Jahr 2015 sollte der Anteil der extrem Armen auf 13,9 Prozent gesenkt werden. Im Bericht 2007 werden als Ausgangswert für 1990 aber plötzlich 31,6 Prozent angesetzt. Die Armutsschwelle für 1990 wurde offenbar rückwirkend angehoben, was angesichts der Absenkung in den Jahren danach sehr verwundert. Die Folge ist, dass 2015 schon eine Reduzierung des Anteils der extrem Armen auf 15,8 Prozent ausreichen würde, um das Ziel – die Halbierung der Quote – zu schaffen. Zu diesem Zeitpunkt werden schätzungsweise sechs Milliarden Menschen in den Entwicklungsländern leben. Das heißt statt 834 Millionen dürfen dann 948 Millionen in extremer Armut leben, ohne dass das Millenniumsziel verfehlt würde.

Die Korrektur der PPP-Daten beeinflusst auch andere Zahlen als die zur Armut – so die zur Müttersterblichkeit. In vielen Ländern können solche wichtigen Entwicklungsdaten nicht direkt erhoben werden. Zum Beispiel gibt es in über 60 Ländern keine einigermaßen verlässlichen Daten über Schwangerschaften, Geburten und damit zusammenhängende Todesfälle. Die Weltgesundheitsorganisation WHO rechnet deshalb verfügbare Informationen hoch und stützt sich bei diesen komplizierten Berechnungen auf andere Parameter. Ein besonders wichtiger ist das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf, berechnet in PPP-Dollars. Als die Neuberechnung der Müttersterblichkeit für 2005 anstand, lieferte die Weltbank der WHO die neuen PPP-Faktoren – zum Beispiel für Nordkorea (für dieses Land werden keine Schätzungen zum Bruttoinlandsprodukt oder zum PPP-Faktor veröffentlicht, intern gibt es aber Daten). Danach lag der PPP-Faktor und damit das Bruttoinlandsprodukt in Nordkorea um 75 Prozent unter den früheren Schätzungen. Die Folge: Statistisch stieg die Müttersterblichkeit in dem kommunistischen Land schlagartig von 67 auf 370 pro 100.000 Geburten.

Fragwürdig sind auch andere UN-Statistiken, die nicht bewusst geschönt, wohl aber von zahlreichen willkürlichen Festlegungen beeinflusst werden. Die sind nötig, weil direkt erhobene Daten fehlen. So überraschte Ende 2007 die WHO mit der Mitteilung, dass weltweit „nur“ rund 33,2 Millionen Menschen mit HIV infiziert seien. Noch ein Jahr zuvor war die Rede von rund 40 Millionen. Bessere Berechnungsmethoden und zusätzliche regionale Daten hätten dazu geführt, dass frühere „überhöhte Schätzungen bereinigt“ worden seien.

Gerade die von Aids am stärksten betroffenen Länder verfügen kaum über verlässliche Krankheits- und Sterbestatistiken. Deshalb muss die Zahl der Aidsfälle aus den wenigen verfügbaren Daten und zusätzlichen Parametern geschätzt werden. Der wichtigste Faktor sind dabei die Erhebungen von Kliniken, die werdende Mütter vor der Geburt betreuen. Sie führen normalerweise Aidstests durch und dokumentieren sie. Wie realistisch weitreichende Rückschlüsse daraus sind, lässt sich schwer beurteilen. Die Daten werden natürlich nicht einfach eins zu eins auf die Gesamtbevölkerung übertragen, sie gehen aber als wichtiger Bestandteil in die Rechnung ein. Für die jüngste weltweite Aidsstatistik wurden die Angaben dieser Erhebungen nun durchschnittlich mit dem Faktor 0,8 abgewertet. Allein in Indien hat das zusammen mit zusätzlichen Stichproben vor allem unter besonders gefährdeten Personen zur Folge, dass dort jetzt mit gut drei Millionen Aidskranken weniger gerechnet wird.

Warum gerade Klinikdaten schwangerer Frauen so stark gewichtet und nun abgewertet werden, erläutert die WHO nicht. Laut UNAIDS sollen Studien ergeben haben, dass in den meisten Ländern mit hohen Aidsraten ein großer Teil der Mütter den vorgeburtlichen Service von Kliniken in Anspruch nimmt. Wer die Gesundheitssysteme im südlichen Afrika (wo Aids besonders verbreitet ist) oder in Indien kennt, reibt sich verwundert die Augen. Selbst die Weltbank führt in ihren „World Development Indicators 2007“ aus, dass in Subsahara-Afrika und in Indien sechs von zehn Müttern ohne die Hilfe von Hebammen oder Ärzten niederkommen müssen – von klinischer Betreuung oder gar pränataler Begleitung nicht zu reden.

Ein zweiter entscheidender Faktor für die Gesamtrechnung ist die durchschnittliche Überlebensdauer von HIV-Infizierten, die keine Behandlung bekommen. Die geschätzte Überlebensdauer ist laut UNAIDS von bisher neun auf mittlerweile elf Jahre gestiegen. Warum Aidskranke ohne medizinische Betreuung nun zwei Jahre länger leben, wird leider nicht näher erklärt.

Die Überlebenszeit geht aber in die Berechnung der aidsbedingten Sterbefälle ein und damit auch in die Schätzung der Zahl der Neuinfektionen. Denn UNAIDS schließt (vor allem aus klinischen Daten), dass die globale Zahl der Aidserkrankten nur noch langsam zunimmt: statt um 1,4 Millionen, wie noch für 2006 geschätzt, jetzt nur noch um 400.000 jährlich. Aus der längeren Überlebensdauer ergeben sich zugleich geringere Sterbequoten – jährlich sterben nach den neuen Zahlen 2,1 statt wie früher geschätzt 2,9 Millionen Menschen an Aids. Folglich muss die Zahl der Neuinfektionen zurückgehen, denn sonst würde ja die Zahl der Aidskranken unvermindert steigen: Die kann – salopp gesagt – nur stabil bleiben, wenn sich nicht mehr Menschen neu anstecken, als am anderen Ende der Skala sterben. Wenn aber die Zahl der Neuinfektionen geringer angesetzt wird, dann sinkt mittelfristig auch die Zahl der Aidskranken. So wird zumindest auf dem Papier ein wichtiger Teil des sechsten Millenniumsziels erreicht, die Zurückdrängung von Aids, Malaria und anderen Krankheiten.

Auch andere Statistiken sind umstritten. Ungläubiges Staunen hat der „Education For All Global Monitoring Report 2008“ der UN-Organisation für Bildung, Wissenschaft, Kultur und Kommunikation (UNESCO) ausgelöst. Er vermeldet gewaltige Fortschritte bei der Schulbildung: Die Zahl der Kinder, die keine Schule besuchen, sei zwischen 1999 und 2005 von 96 Millionen auf 72 Millionen gesunken. Das UN-Kinderhilfswerk UNICEF stellt dagegen in seinem Bericht „Zur Lage der Kinder in der Welt 2007“ fest, dass noch über 115 Millionen Kinder im Grundschulalter nicht zur Schule gehen. Die Zahl sei trotz höherer Einschulungsraten vor allem in Afrika in den vergangenen Jahren kaum gesunken.

Kritisch werden auch die Waldstatistiken der UN-Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation (FAO) gesehen, wonach sich die Abholzung der Regenwälder verlangsamt hat. Die FAO hat einfach großzügiger definiert, was noch als Wald angesehen wird: Sie hat neu festgelegt, zu wie viel Prozent eine Fläche im Luftbild von Baumkronen bedeckt sein muss. Die brasilianische Regierung musste hingegen Anfang 2008 einräumen, dass der Urwald im Amazonastiefland immer schneller verschwindet, und dasselbe wird aus Südostasien berichtet – ganz im Gegensatz zu den statistischen Befunden der FAO.

Die Liste umstrittener Statistiken ließe sich fortsetzen. Den Rechenwerken ist gemein, dass neue Zahlen häufig auf neuen Erhebungs- oder Berechnungsmethoden gründen. Daran ist nichts auszusetzen: Im Lichte verbesserter Daten müssen Statistiken immer wieder aktualisiert und die Datenreihen vergangener Jahre angepasst werden. Auffällig ist aber, dass nahezu alle neuen Zahlen ein günstigeres Bild der weltweiten Entwicklung zeichnen als die früheren. Man muss nicht böswillig sein, um dahinter Methode zu vermuten. Wer möchte schließlich schon, dass die Millenniumsziele verfehlt werden?

Karl-Albrecht Immel ist Redakteur beim Südwestdeutschen Rundfunk (SWR) und erstellt regel­mäßig Schaubilder zur Entwicklungspolitik. 2007 hat er zusammen mit Klaus Tränkle unter dem Titel „Tatort Eine Welt. Was hat mein Handy mit dem Kongo zu tun?“ eine Sammlung solcher Infografiken vorgelegt.

welt-sichten 2/3-2008

 

 

 

erschienen in Ausgabe 2 / 2008: Pakistan - Staat in der Dauerkrise
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