„Wir lieben die Demokratie“

Die islamisch-fundamentalistische Muslimbruderschaft ist in Ägypten verboten. Dennoch sitzen 88 Mitglieder der Bruderschaft im derzeitigen Parlament; von ihnen hat Ali Laban die längste politische Erfahrung. Seit 1995 vertritt der 53-Jährige seinen Wahlkreis am Stadtrand von Kairo, in dem vor allem Arbeiter großer Fabriken leben sowie Menschen, die im Zuge der Wirtschaftsreformen ihre Jobs verloren haben.

Herr Laban, in Deutschland gelten Muslimbrüder als gefährlich, sie werden vom Verfassungsschutz überwacht. Sie sind Muslimbruder. Welche Ziele haben Sie eigentlich?

Die Menschen im Westen kennen die Muslimbrüder nur über die Medien und über das, was ihre Regierungen verbreiten. Da ist es kein Wunder, dass sie Angst vor uns haben. Eigentlich wäre es schön, wenn im Westen häufiger die Frage gestellt würde, welche Ziele wir haben.

Und wie lautet dann Ihre Antwort?

Die Muslimbrüder lieben die Demokratie, die Menschenrechte und fördern die Beteiligung der Frauen am öffentlichen Leben. Wir wollen eine gerechtere Weltordnung und die Verwirklichung der Menschenrechte nach der UN-Charta. Das ist auch im Interesse des Westens, sonst kommen immer mehr Menschen zu euch. Wir sollten von der Wiedervereinigung Deutschlands lernen. Ihr habt Millionen in den Aufbau Ost gesteckt, damit die Menschen in Ostdeutschland bleiben. Europa sollte ein ähnliches Programm für die südlichen Mittelmeerländer auflegen.

Die Muslimbrüder – sozial oder radikal?

Die Muslimbruderschaft wurde 1928 von Hassan Al Banna in Ägypten gegründet und zwanzig Jahre später nach Anschlägen von der Regierung verboten. Dennoch sind „al ...

Denken Sie bei Demokratie an das heutige Europa oder an das Vorbild der Urgemeinde in Medina unter dem Propheten Mohammed?

Wir wollen, dass das Volk sich seine Regierenden aussuchen kann und dass niemand mit Fälschung oder Schlägertrupps den Willen des Volkes verfälscht. Es war nicht das Ziel unseres Propheten, dass wir in alle Ewigkeit das Beispiel von Medina kopieren. Er hat gesagt, dass jede Zeit ihre Besonderheiten hat und man die Regierung anpassen muss. Für Glaubensfragen gilt das aber natürlich nicht. Das Gebet oder das Fasten darf niemand verändern und es ist das höchste Gebot der Politik, diese Werte zu beschützen und zu bewahren.

Was wäre, wenn das Volk eine Frau an die Spitze der Regierung wählt? Hätten Sie damit ein Problem?

In einer freien Gesellschaft kann es verschiedene Denkrichtungen geben. Wenn Sie eine Partei hätten, würde diese vielleicht eine Frau aufstellen. Meine würde es nicht tun. Wenn das Volk die Frau wählen würde: Willkommen! Dann werden wir nicht dagegen Widerstand leisten.

Aber würden nicht diejenigen, die eine Präsidentin unislamisch finden, sie bekämpfen?

Vielleicht, aber diese Diskussion ist überflüssig: Im Moment kann in diesem Land niemand, keine Frau, kein Mann, kein Christ und kein Muslim Präsident werden, es sei denn er ist von der Regierungspartei. Das ist unser eigentliches Problem und die Frage nach den Frauen ist Gesprächsstoff für Menschen, die in klimatisierten Büros sitzen. Ich versichere Ihnen: Im Moment würden wir jeden frei gewählten Präsidenten akzeptieren – Männer, Frauen und Christen.

Trotzdem: Für welche politischen Rechte der Frauen machen sich denn die Muslimbrüder stark?

Die Frauen haben volle Rechte, aber es gibt Grenzen, welche wir einhalten müssen. Das ist die Scharia. Sie hindert eine Frau nicht daran, zu arbeiten und sich zu engagieren. Wir stellen Frauen als Kandidatinnen bei den Parlamentswahlen auf und sind für die Beteiligung an der Politik und im Berufsleben, aber Staatsoberhaupt ist ein Job für Männer.

Aber Sie haben doch eben gesagt, dass Sie für die Verwirklichung der UN-Menschenrechte eintreten. Das ist doch etwas anderes als die Frauenrechte nach der Scharia.

Wir wollen, dass der Bürger gut leben kann, dass er einen Job mit einem angemessenen Einkommen und politische Rechte hat. Wir wollen ein System, das den Reichtum gerecht verteilt. Hier verdienen viele Jugendliche – wenn sie überhaupt einen Job finden – vielleicht 80 Euro im Monat. Davon kann man hier nicht leben. Auf der anderen Seite werden die Fabrikbesitzer immer reicher. Es gibt in diesem Land inzwischen Spezialkliniken für Hunde, aber zugleich wissen viele Menschen nicht, wo sie sich hinwenden sollen, wenn sie krank sind.

Viele Menschen in Ägypten haben Angst davor, dass die Muslimbrüder an die Macht kommen. Ein Argument ist, dass Sie dann die Christen unterdrücken würden.

Wir fühlen uns unseren christlichen Brüdern sehr nahe. Ich sage das nicht, weil die UN es von mir verlangt, sondern aus ganz egoistischem Interesse: Damit ich ins Paradies komme. Auch wollen wir ja einen zivilen Staat, keinen Gottesstaat. Jeder Bürger hat die gleichen Rechte. Nur im Familienrecht gelten unterschiedliche Regeln. Hier hat jede Glaubensgemeinschaft ihr eigenes Recht.

Gibt es denn andere Länder, die Ihnen als Beispiel dienen?

Jedes Land ist anders, aber die Türkei ist ein gutes Beispiel, da sie zeigt, wie gut eine islamisch geprägte Regierung in einem nicht religiösen Staat funktionieren kann.

Befürchtungen, dass die Muslimbrüder, wenn sie an die Macht kämen, als erstes die Demokratie und als nächstes die Rechte von Frauen und Christen abschaffen würden, sind also unberechtigt?

Es wird so viel Angst geschürt. Wieso lässt man uns nicht einfach mal machen? Wenn Sie behaupten, dass Sie guten Kuchen backen können, dann würde ich Sie ja auch in die Küche schicken, um es zu beweisen, bevor ich es Ihnen glaube. Lassen Sie es uns beweisen!

Sie sind der Vertreter der Muslimbrüder mit der längsten Erfahrung im Parlament. Was haben Sie in Ihrer Zeit als Abgeordneter erreicht?

Mich freut am meisten, dass sich die Dienstleistungen in meinem Wahlkreis sehr verbessert haben. Dies ist ein armer Wahlkreis mit vielen Problemen. Im Parlament habe ich mich vor allem für mehr politische Freiheiten eingesetzt. Auch um Umweltschutz habe ich mich bemüht. Nicht zuletzt, weil mein Wahlkreis das wohl größte Industriegebiet Ägyptens mit entsprechenden Problemen ist.

Und waren Sie bei der Arbeit im Parlament erfolgreich?

Zwischen 1995 und 2000 gab es insgesamt nur 15 Oppositionsabgeordnete im Parlament mit 458 Sitzen. Ich war der einzige der Muslimbrüder. In der nächsten Wahlperiode waren wir 17 und jetzt zuletzt 88. Diese Zahlenverhältnisse machen klar, dass die Regierung uns ignorieren kann. Wir lassen trotzdem nicht locker. Schließlich fragen uns ja auch unsere Wähler, wozu sie uns ihre Stimme geben sollen.

Ist das nicht frustrierend?

Ich ziehe meine Kraft aus meinem Glauben und ich habe eine Botschaft, die ich verbreiten will. Politische Freiheiten will die Regierung auf keinen Fall diskutieren. Schließlich ist allen Beteiligten klar, dass sie bei freien Wahlen sofort weg vom Fenster wäre.

In Ägypten ist die Arbeit im Parlament nur ein Teil der Arbeit eines Abgeordneten. In erster Linie kümmert er sich um seinen Wahlkreis.

Ich höre mir an, was die Menschen brauchen, und dann verhandle ich mit den Ministerien, dass etwas passiert. Wir Abgeordneten der Muslimbruderschaft haben besondere Prinzipien: Wir wohnen im Wahlkreis, das ist leider nicht selbstverständlich. Wir haben auch keinen anderen Beruf, den wir neben unserem Amt ausüben, und wir sind nicht korrupt.

Ende November wird in Ägypten das Parlament gewählt. Viele gehen davon aus, dass die Regierung alles daran setzen wird, dass die Muslimbrüder nicht wieder ins Parlament kommen. Angeblich wurden Ihre Sitze anderen Oppositionsparteien versprochen, wenn die sich regierungsfreundlich verhalten.

Ja, es wird dieses Mal wohl noch mehr gefälscht werden als sonst, aber man weiß nie. An einem Ort wird gefälscht, am nächsten geht es sauber zu. Man darf nicht aufgeben.

Viele andere Oppositionsgruppen boykottieren wegen der Fälschung die Wahlen. Wieso schließen Sie sich dem Boykott nicht an?

Ein Boykott macht nur Sinn, wenn sich alle Oppositionsparteien am Boykott beteiligen, sonst spielt die Regierung sie gegeneinander aus. Es hat leider keine einheitliche Boykotthaltung gegeben.

Seit einiger Zeit haben Sie sich mit der Bewegung von Mohammed ElBaradei zusammengetan, der bis 2009 die Internationale Atomenergie-Agentur geleitet hat und jetzt für politische Reformen in Ägypten eintritt. Sie sammeln Unterschriften für seine Initiative die Verfassung so zu ändern, dass auch Kandidaten, die nicht der Regierungspartei angehören, bei den Präsidentschaftswahlen 2011 antreten dürfen. Das hat viele erstaunt, weil Sie so unterschiedlich scheinen.

Bisher hat ElBaradei nicht gesagt, dass er für die Präsidentschaft kandidieren will und darum geht es auch nicht in erster Linie. Uns verbindet, dass wir Veränderung wollen. Wir wollen faire, freie Wahlen. ElBaradei will das System verändern. Das wollen wir auch.

Der Preis dafür ist hoch. Muslimbrüder wurden verhaftet  und gefoltert. Haben Sie keine Angst?

Ich habe Angst vor dem Gefängnis und davor, gefoltert zu werden. Gerade gegen die Kandidaten der Muslimbrüder ist bei den Wahlen immer heftig vorgegangen worden. Da wurden Familienmitglieder der Kandidaten verhaftet und es wurde ihnen Gewalt angetan. Aber unsere Sache ist größer. Ich kann nicht aufgeben. In diesem Zusammenhang möchte ich auf die Mitverantwortung Deutschlands hinweisen. Hört auf, unsere Diktatur zu unterstützen! Wir sind gegen Einmischung von außen, aber unsere Regime leben von den guten Beziehungen zum Westen. Es gibt in der ganzen Welt Muslimbrüder und überall schafft es die ägyptische Regierung, dass sie als Terroristen gesehen werden.

Das Gespräch führte Julia Gerlach.

Der 53-jährige Muslimbruder Ali Laban sitzt seit 1995 im ägyptischen Parlament.

 

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erschienen in Ausgabe 11 / 2010: Arabische Welt: Umworben und umkämpft
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