Der Kult der Killer

Ende Dezember 2009 hat die ugandische Rebellengruppe der Lord’s Resistance Army (Widerstandsarmee des Herrn, LRA) im Kongo hunderte Menschen getötet. Seit Jahren sorgen die brutalen Kämpfer um ihren Führer Joseph Kony im Dreiländereck zwischen Kongo-Kinshasa, Sudan und Zentralafrikanischer Republik für Furcht und Schrecken. Dass das Treiben der LRA bislang nicht gestoppt werden konnte, liegt auch daran, dass sie von höchster Stelle unterstützt wird. Eine Spur weist nach Khartum.

Bruder Ferruccio Gobbi wird das Bild im Kopf nicht los. 41 Jungen und 20 Mädchen, aufgereiht und aneinandergebunden wie Sklaven. Angst und Panik in ihren Kinderaugen. Er selbst wird an das Ende der Schreckenskarawane gebunden. Ein Elektrokabel, das als Fessel dient, schneidet in seinen Oberarm. So sehr, dass der italienische Missionar fürchtet, er werde seinen linken Arm verlieren. Die Rebellen treiben sie an, mit Macheten und Maschinengewehren, hinein in den dichten Urwald. Nach 600 Metern wird Ferruccio überraschend frei gelassen. Was man mit einem alten katholischen Priester wolle, bellt ein Offizier der Rebellen. Während der 67-Jährige eilig den Rückweg entlang stolpert, weiß er, dass von den 61 Kindern wohl keines zurückkehrt. Die Rebellen entführen sie, um die Jungen zu Kindersoldaten zu drillen und die Mädchen als „Ehefrauen“ zu missbrauchen. Es ist der 17. September 2008. Der Tag an dem der grausame Wahnsinn der LRA auf kongolesischem Boden begann.

Die Lord’s Resistance Army hat fast zwei Jahrzehnte lang im Norden Ugandas einen Bürgerkrieg gegen die Regierung von Präsident Yoweri Museveni geführt. Ende 2005 überquerten die Rebellen die Grenze zur Demokratischen Republik Kongo, um sich dort im dichten Dschungel des Nationalparks Garamba zu verstecken. Mit den Anschlägen vom 17. September 2008 meldeten sie sich zurück – brutal wie eh und je. Außer dem Dorf Duru, in dem Bruder Ferruccio lebte, überfielen die Rebellen an jenem Tag 19 weitere Siedlungen. Seitdem sind unzählige Angriffe hinzugekommen. Nach UN-Angaben starben dabei im vergangenen Jahr über tausend Menschen, rund 300.000 sind auf der Flucht vor den Rebellen. Trotzdem beteuern sowohl Kongos als auch Ugandas Regierung seit Monaten gebetsmühlenartig, die LRA sei entscheidend geschwächt und keine Gefahr mehr.

Das Gegenteil beweist ein im März erschienener Bericht der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch. Darin heißt es, dass die LRA im vergangenen Dezember auf einem erneuten Todeszug durch die Gegend von Niangara im Nordosten des Kongo in vier Tagen mindestens 321 Menschen umgebracht und 250 weitere entführt hat. Überlebende haben berichtet, wie die LRA-Kämpfer ihre Opfer mit Macheten verstümmelten oder mit schweren Holzknüppeln erschlugen. Nach internen UN-Sicherheitsberichten haben die Rebellen im Februar dieses Jahres noch weitere 102 Menschen getötet.

Monatelang war in den deutschen Medien kaum etwas über die LRA zu lesen. Mit den jüngsten Gräueltaten haben sich die Rebellen zurück ins Gedächtnis der westlichen Welt gebracht. Prompt berichteten die Medien von den „christlich-fundamentalistischen“ Kämpfern, deren Ziel es sei, einen „Gottesstaat auf Grundlage der Zehn Gebote zu errichten“. Doch solch simple Erklärungen greifen zu kurz.

Joseph Kony ist ein Kind der Acholi, einer Volksgruppe im Norden Ugandas, einer Region, in der sich so wie vielerorts in Afrika Geisterglaube mit christlicher Missionslehre mischt. Joseph Kony ist der selbsternannte Nachfolger seiner Tante, der Priesterin Alice Lakwena, die bereits vor Kony mit Tausenden Anhängern eine Rebellion gegen die Regierung angeführt hatte. Animistische Rituale, Salbungen und Prophetie hatten in ihrer Kriegsführung ebenso ihren Platz wie jetzt bei Joseph Kony, der in ihre Fußstapfen getreten ist. Doch er hat die spirituellen Praktiken pervertiert und eigene abstruse Gesetze aufgestellt. Das politische Ziel, gegen Ugandas Regierung zu kämpfen, dürfte längst verloren gegangen sein. Heute geht es für die LRA vor allem um ihr eigenes Überleben. Ein Kult von Killern. Gegen die Führungsriege der LRA hat der Internationale Strafgerichtshof (ICC) in Den Haag Haftbefehl erlassen.

Pierre war Kindersoldat der LRA. Dem 15-Jährigen ist die Flucht aus einem Rebellencamp gelungen. Vorher musste er miterleben, wie die LRA kurzen Prozess mit zwei Mitgefangenen machte, denen ein Fluchtversuch misslungen war. „Kony gab den Befehl, dass ihre Freunde sie vor allen anderen Kindern töten sollten. Ungefähr 60 Kinder haben zugesehen“, erzählt Pierre. Zu solchen Hinrichtungen, die die Kinder brechen sollen, kommt ein strenges Militärtraining. Außerdem gaukelt die LRA-Führung den Kindern spirituellen Schutz vor. Bevor es in den Kampf geht, tragen die Anführer ihnen Öl auf Wangen, Hüfte und Handflächen auf. Es werde sie vor feindlichen Kugeln schützen.

Von sich selbst sagt der Führer, er sei mit Geistern im Gespräch und erhalte von ihnen  Hinweise, wo der nächste Angriff des Militärs stattfinden werde. Wer Kony allerdings als spirituellen Spinner abtut, unterschätzt ihn. Er geht strategisch vor und muss ein Netzwerk haben, das ihn bis in den tiefsten Regenwald versorgt. In aufgespürten Lagern der Rebellen finden sich oft moderne Waffen, Kommunikationstechnik und Uniformen.

Die Waffenschieberei passiert im toten Winkel der Beobachter von Menschenrechtsorganisationen oder der Vereinten Nationen. Als die LRA ihr grausames Treiben im Kongo aufahm, berichteten Einheimische sowie UN-Beobachter vor Ort von Hubschraubern, die irgendwo im Urwald landeten, koordiniert per GPS-Daten und Satellitentelefon. Doch seit sich die LRA verstärkt militärischer Verfolgung ausgesetzt sieht und unentdeckt bleiben will, hat sie ihre Telefon- und Satellitenkommunikation so gut wie eingestellt. Nach wie vor sei nicht eindeutig, wer die Rebellenorganisation mit Waffen versorgt, bestätigt auch John Norris, der Geschäftsführer der US-amerikanischen Organisation Enough. Sie meldete im März, die LRA sei in Süd-Darfur gewesen, um dort neue Unterstützung von der Regierung des Sudan zu suchen – wohl auch in Form von Waffen.

Bereits in der Vergangenheit hat sich Khartum verschiedener Stellvertreterarmeen für seine Kämpfe bedient. In Darfur waren es die Dschandschawid, im Südsudan ließ der Norden während des Bürgerkrieges Stammesmilizen mit Waffen ausrüsten – und kooperierte auch mit der LRA, die die Grenzregion zu Uganda als Rückzugsgebiet nutzte. Beobachter der Region befürchten, dass Khartum jetzt erneut die Kollaboration mit Konys Rebellen sucht, um für neue Unruhen zu sorgen und das Referendum zur Unabhängigkeit Südsudans im kommenden Jahr zu gefährden.

Brisant sind auch Aussagen des LRA-Kommandanten Charles Arop, der sich mit einigen Anhängern im November der ugandischen Armee gestellt hatte. Er sprach in der regierungsnahen ugandischen Zeitung „New Vision“ offen von einer Zusammenarbeit der LRA mit Sudans Präsident Omar al-Bashir, der ebenfalls unter Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofes steht. „Allerdings sind die Informationen mit Vorsicht zu genießen, denn Ugandas Regierung ist stets darum bemüht, Propaganda gegen die LRA zu machen“, warnt Peter Eichstaedt, Redakteur am Institute for War and Peace Reporting (IWPR). Die Indizien für eine Zusammenarbeit mit Khartum seien bislang leider nicht unabhängig überprüft worden, vieles spreche aber dafür, dass sie zutreffen.

Die LRA ist längst nicht mehr nur ein Problem Ugandas, sondern bedroht mittlerweile ganz Zentralafrika. Sie profitiert von der Gesetzlosigkeit im Niemandsland im Grenzgebiet der Länder Kongo, Sudan und Zentralafrikanische Republik. Dass die LRA-Führung sich immer noch auf freiem Fuß befindet und ihre Kriegsgräuel fortsetzt, hat vier Gründe: das Versagen des Militärs der betroffenen Länder, die defensive Strategie der UN-Blauhelme im Kongo, die Unzugänglichkeit der Region und das Desinteresse des Westens.

Im Dezember 2008 starteten Uganda, Kongo und die Regierung des Südsudan mit US-amerikanischer Unterstützung einen Militärangriff gegen die Hauptlager der LRA im Kongo. Der Angriff schlug fehl, die LRA-Führung entkam. Die Rebellen rächten sich auf brutale Weise. Bei den so genannten Weihnachtsmassakern von 2008 kamen nach UN-Angaben über 500 Zivilisten ums Leben. Letztlich hatte die Militär­operation lediglich einen Effekt: Die zu damaliger Zeit auf rund 3000 Kämpfer geschätzte LRA zerfiel in zahlreiche Splittergruppen. Heute wird die Stärke der LRA auf weit weniger als 1000 Kämpfer geschätzt.

Seit der Attacke Ende 2008 haben Soldaten der ugandischen Armee zusammen mit den kongolesischen Streitkräften zwar mehrere hundert LRA-Kämpfer getötet, und einige kleine Rebellengruppen haben sich freiwillig gestellt. Dennoch ist es bislang nicht gelungen, die Rebellen auszuschalten. Das liegt an der mangelhaften logistischen Ausstattung der beteiligten Armeen, dem unzureichenden Austausch von Informationen zwischen ihnen sowie am Disziplinmangel vor allem auf Seiten der kongolesischen Streitkräfte. Die Meldungen von Übergriffen der Soldaten auf die Zivilbevölkerung – Vergewaltigung, räuberische Erpressung und auch Mord – häufen sich.

Die UN-Mission MONUC im Kongo ist zu schwach, um diesen Mangel auszugleichen. Sie hat gegenwärtig etwa tausend Blauhelme in den Distrikten Haut- und Bas-Uélé stationiert. Mit diesem Kontingent kann sie kaum ihrem Mandat nachkommen, die Zivilbevölkerung zu schützen: Die Region ist doppelt so groß wie der Kosovo. In der Konsequenz verfolgt die UN eine defensive Strategie und konzentriert sich auf die Sicherung der Städte mit hohen Flüchtlingszahlen. „Wir können nicht überall sein“, gibt ein ranghoher UN-Verantwortlicher bei einem Gespräch vor Ort zu. „Wir können ganz einfach nicht in den Urwald vordringen, weil wir dafür überhaupt nicht die Ausrüstung und die Mittel haben.“ Doch genau dort, in den entlegenen Buschdörfern, schlägt die LRA immer wieder zu.

Aus Hubschrauberperspektive präsentiert sich das Dreiländereck Kongo-Sudan-Zentralafrikanische Republik als ein einziges grünes Dach. Der Militärangriff vom Dezember 2008 war als Überraschungscoup geplant. Doch Wolken sollen den ugandischen Kampfflugzeugen die Sicht genommen haben, und die Bodentruppen kamen aufgrund von Hindernissen im Dschungel mit über 48 Stunden Verspätung in den damaligen Lagern der LRA an. Seit außerdem im Jahr 2006 acht UN Special Forces aus Guatemala bei der Jagd auf Konys damaligen Stellvertreter Vincent Otti grausam im Regenwald umgebracht wurden, ist – nach gegenwärtigem Kenntnisstand – keine weitere Spezialeinheit eingesetzt worden.

Auf internationaler Ebene interessieren sich gegenwärtig nur die USA für das Treiben der LRA – wenn überhaupt. 2008 unterstützte Washington den Militärschlag technisch und logistisch sowie mit Informationen der Geheimdienste. Im vergangenen März gab außerdem der Senat ein richtungweisendes Zeichen, indem er einen Gesetzesvorschlag verabschiedete, der von Obamas Regierung eine Strategie im Kampf gegen die LRA verlangt.

Für die EU dagegen ist der LRA-Konflikt kein vorrangiges Thema. Die Konflikte im Nahen Osten, in Afghanistan, Darfur oder Somalia bestimmen die politische Diskussion in Brüssel. „Der Grund ist: Die LRA greift Menschen an, die weder wertvolle Ressourcen kontrollieren noch in Verbindung mit Themen stehen, die derzeit auf der weltpolitischen Tagesordnung stehen“, sagt der LRA-Experte Peter Eichstaedt.

Werden die jüngsten Massaker der LRA die Diskussion in der westlichen Welt neu entfachen und die Gesetzgebung in den USA beschleunigen? Bruder Ferruccio ist skeptisch. Nachdem die LRA ihn entführt hatte, war er in Europa und hat sogar vor dem Internationalen Strafgerichtshof als Zeuge ausgesagt. Bereits nach wenigen Wochen kehrte er in den Kongo zurück. „In Europa hat keiner meine Geschichte verstanden. Und sie hat auch kaum jemanden interessiert.“

erschienen in Ausgabe 5 / 2010: Menschenrechte - Für ein Leben in Würde
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