Handeln verbindet

Was haben deutsche Modeverkäuferinnen und Nähe­rinnen aus Bangladesch gemein? Mehr als man denkt. Beide Seiten solidari­sieren sich im Kampf um bessere Arbeitsbedingungen und höhere Löhne.

Sitzung des Gesamtbetriebsrates von Hennes & Mauritz, Januar 2012 in Hamburg: Auf der Tagesordnung steht auch der Punkt „Reise Bangladesch“. Laura Bresson erinnert sich noch gut daran, wie sie den Betriebsräten und der anwesenden Deutschland-Geschäftsführung von ihrem Besuch in Dhaka berichtet hat, von der Fabrik, in der offene Kabel von der Decke hängen, die Notausgänge zugestellt sind und statt Feuerlöschern kleine Wassereimer in der Ecke stehen. Die Verkäuferin fragt die Geschäftsführung, wie das möglich ist – in einer Fabrik, die Besuchern als Vorzeigebetrieb präsentiert wird. Und sie fragt, wieso H&M für die Kleidung so wenig bezahlt, dass viele Näherinnen ihre Kinder arbeiten schicken müssen.

Autor

Sebastian Drescher

ist freier Journalist in Frankfurt und betreut als freier Mitarbeiter den Webauftritt von "welt-sichten".

„Aber Laura, wir tun doch schon so viel“, heißt es. Die Geschäftsführung beschwichtigt – aber sie hört ihr zu. Denn Laura Bresson ist ein Teil der großen Familie H&M. Und in dieser Familie hat jeder eine Stimme. Jeder der über 100.000 Beschäftigten, die in den knapp 3000 Filialen in 50 Ländern arbeiten: Designer, Werber, Store-Manager, Verkäufer. Die Arbeiter, die in den Fabriken in Bangladesch Jeans und Strickware für den schwedischen Konzern produzieren, gehören nicht dazu. Oft haben sie noch nicht einmal eine Stimme im eigenen Betrieb.

Rund vier Millionen Menschen arbeiten in Bangladeschs Textilindustrie, die meisten von ihnen sind junge Frauen. Knapp 40.000  sind in der National Garment Workers Federation (NGWF) organisiert, einer der größten Gewerkschaften der Branche. Zwar sind die Mitglieder in rund 1000 Fabrikkomitees und einigen wenigen registrierten Betriebsgewerkschaften aktiv, in vielen Fabriken werde aber jede Form der Arbeitnehmervertretung verhindert, sagt Amirul Haque Amin, der Präsident der NGWF. Starke Gewerkschaften seien jedoch wichtig, um etwa grundlegende Lohnforderungen durchzusetzen. Und sie könnten künftig Katastrophen wie den Fabrikeinsturz in Rana Plaza vermeiden, denn mit gewerkschaftlichem Schutz hätten sich die Arbeiter wehren können, das offensichtlich einsturzgefährdete Gebäude zu betreten.

Die Näherinnen klagen über Misshandlungen bei der Arbeit

Laura Bresson hatte es da einfacher, als sie 2010 in ihrer Männer-Filiale in Wiesbaden einen Betriebsrat aufbaute. Seitdem setzt sich die ungelernte Verkäuferin für ihre Kollegen bei H&M ein. Und für die Fabrikarbeiter in Südostasien. Sie hat mit eigenen Augen gesehen, unter welchen Umständen die Kleidung hergestellt wird, die sie hier in Deutschland an den Mann bringt. Im Herbst 2011 fährt sie mit Betriebsrätinnen des Modehauses Zara und der Handelskette Metro sowie einem Verdi-Gewerkschafter nach Bangladesch. Sie besuchen Fabriken, gehen in die Wohnsiedlungen der Beschäftigten. Und sie hören den Näherinnen zu, wenn die von ihrer Arbeit berichten sowie von Vergewaltigungen und Misshandlungen am Arbeitsplatz.

In einem gemeinsamen Workshop zeichnen sie auf, wo sie bei der Arbeit Schmerzen haben. Die einen markieren Rücken, Augen und Hände, die nach den langen Arbeitstagen an den Nähmaschinen schmerzen, die anderen den Rücken, die Beine und die Füße, die vom vielen Stehen und Laufen und den Shops wehtun. Noch heute ist Laura Bresson erstaunt über die Reaktion der Näherinnen: „Die haben gesagt, oh Gott, euch geht es ja schlimmer als uns.“

Mehrmals reisten in den vergangenen Jahren Beschäftigte aus dem deutschen Einzelhandel nach Asien – und Näherinnen aus Indien, Sri Lanka und Bangladesch nach Deutschland. Es geht um Austausch, das Wissen um die Arbeitsbedingungen der anderen – und um den Aufbau von Solidarität. Organisiert wird der Austausch von Exchains, einer Ini­tiative, die Beschäftigte in der globalen Bekleidungsindustrie zusammenbringt. Mit dabei sind Ge­werkschaften aus Indien, Sri Lanka, die NGWF aus Bangladesch und die deutsche Einzelhandelsgewerkschaft Verdi sowie TIE-Global, ein Graswurzel-Netzwerk von internationalen Betriebsräten und Gewerkschaftern.

Nach einer Woche in Bangladesch hat Laura Bresson genug gesehen. Ihr erster Gedanke ist, die großen Modemarken zu boykottieren. Aber das sei nicht das, was die Menschen in Bangladesch wollten. Schließlich seien sie auf den Export angewiesen. Stattdessen setzt sie sich für die Interessen der Arbeiter und Arbeiterinnen in Asien ein. Sie berichtet ihren Kollegen in Wiesbaden von den Arbeitsbedingungen in den Fabriken, den Brandkatastrophen, den Streiks der Gewerkschaften. Alle Mitarbeiter ihrer Filiale unterschreiben später den Aufruf an die Bosse von H&M und Zara, dem Brandschutzabkommen für Bangladesch beizutreten, das von Gewerkschaftsbündnissen und den Textilunternehmen vereinbart wurde.

Wenn ein Kunde sie nach der Herkunft der Kleidung fragt, sagt Laura Bresson offen, was sie denkt: dass die billigen Preise auf Ausbeutung beruhen und die Kunden bereit sein müssten, mehr zu zahlen. Und dass die großen Textilunternehmen genug Einfluss haben, um für bessere Arbeitsbedingungen in den Billiglohnländern zu sorgen. „Die meisten Kunden sagen, sie hätten kein Problem, wenn die Kleider teurer wären.“

Viel müsste es nicht sein: Um den monatlichen Durchschnittslohn von rund 45 Euro zu verdoppeln, müssten die Handelsketten nur ein bis zwei Prozent mehr zahlen, sagt Amirul Haque Amin. Auch er ist deshalb von der Verantwortung der transnationalen Textilunternehmen überzeugt. Die Solidarität der europäischen Gewerkschaften sei wichtig, weil sie näher dran seien an den Schaltzentralen der großen Firmen in Europa und den USA. Und weil sie Druck auf die Regierungen und die Europäische Union ausüben könnten, sich in Bangladesch für bessere Arbeitsbedingungen einzusetzen. Aber die internationale Solidarität, sagt Amin, sei keine Einbahnstraße: „Wir wollen genauso die Angestellten im Norden unterstützen.“

Diese Verbundenheit zwischen den Beschäftigten in Deutschland und in Asien gab es nicht immer. In den 1950er Jahren war die Textil- und Bekleidungsindustrie mit 700.000 Mitarbeitern ein bedeutender Wirtschaftszweig in der Bundesrepublik. Zum Schutz der Unternehmen und Arbeitsplätze wurde die Konkurrenz aus den Billiglohnländern jahrzehntelang mit  Importquoten bekämpft – auch auf Druck der Gewerkschaften. Mit dem Abstieg der hiesigen Industrie setzte sich dann spätestens in den 1990er Jahren die Erkenntnis durch, dass die europäischen Arbeitsplätze im globalen Wettbewerb nur bestehen können, wenn auch anderswo bessere Arbeitsbedingungen herrschen und höhere Löhne gezahlt werden. Nach der endgültigen Liberalisierung im Rahmen des WTO-Abkommens 2005 kann Westeuropa auf dem internationalen Textilmarkt nicht mehr mithalten. Heute unterbieten sich die Produktionsländer im Süden im Wettbewerb um Aufträge.

Davon profitieren die globalen Handelsunternehmen, die keine eigenen Fabriken mehr betreiben, sondern dort einkaufen, wo es gerade am billigsten ist. Dem Wettlauf um Kostensenkung setzen internationale Gewerkschaftsbünde sogenannte Internationale Rahmenvereinbarungen entgegen. Darin verpflichten sich die Unternehmen, an allen Standorten die Kernarbeitsnormen einzuhalten – auch in den Zulieferfirmen. H&M und die spanische Zara-Mutter Inditex haben seit einigen Jahren solche Vereinbarungen.

Aber wer sorgt dafür, dass sie eingehalten werden? Der Politikwissenschaftler Thomas Greven von der Freien Universität Berlin sieht das Problem in der Umsetzung: „Diese Vereinbarungen gehen von den relativ guten industriellen Beziehungen in Europa aus. Aber in vielen Billiglohnländern sind die gewerkschaftlichen Kräfte zu schwach, um die versprochenen Standards einfordern zu können.“ Deshalb sei es wichtig, dass die gewerkschaftliche Arbeit den Unternehmen in die Produktionsländer folgt.

Auch Netzwerke aus nichtstaatlichen Organisationen und Gewerkschaften wie die Kampagne für saubere Kleidung prangern seit Jahren die Missstände in den Produktionsländern an. Anders als etwa in der Automobil- oder Computerindustrie sind die Zulieferketten in der Textilindustrie überschaubar, die Zusammenhänge der Öffentlichkeit leichter vermittelbar. Trotzdem wird die Ausbeutung erst mit den vielen Todesopfern in Bangladesch und Pakistan zum öffentlichen Skandal. Gerade im internationalen Kontext sei es sinnvoll, gewerkschaftliche Kooperationen mit öffentlichkeitswirksamen Kampagnen zu verknüpfen, sagt Thomas Greven. Allerdings sollte man sich nicht damit zufrieden geben, die Unternehmen zur Einhaltung bestimmter Menschenrechtsstandards zu verpflichten. Am Ende müsse es immer um die Frage gehen, wie viel Macht die Angestellten in ihren Betrieben haben.

Wie wichtig kollektive Arbeitsrechte sind, erleben derzeit die Beschäftigten am westlichen Ende der Wertschöpfungskette. Seit Monaten können sich Verdi und die Arbeitgeber nicht auf einen neuen Tarifvertrag für den deutschen Einzelhandel einigen. Es geht nicht nur um ein paar Prozent mehr Lohn, sondern ums Ganze: Anfang des Jahres haben die Unternehmensverbände angekündigt, die Manteltarifverträge kündigen zu wollen. Die aber regeln alle Aspekte des Arbeitslebens: Mutterschutz, Arbeitszeit, Urlaub, Zuschläge. Die Arbeitgeber halten die Verträge unter anderem wegen veralteter Berufsbezeichnungen für überholt und wollen sie modernisieren. Verdi befürchtet eine weitere Flexibilisierung der Arbeitszeit, Lohndumping und eine Zunahme der prekären Arbeitsverhältnisse.

Solidarität heißt heute nicht mehr: Wir hier für die dort

Laura Bresson folgt den Aufrufen zu Warnstreiks – auch wegen der Veränderungen in ihrer Filiale: Der Anteil der Befristeten werde immer größer, genauso wie die Zahl der Teilzeitstellen und 400-Euro-Jobber. Schwer hätten es vor allem die vielen Lückenfüller auf Zehn-Stunden-Basis, die auf Abruf arbeiten und oft zu Stoßzeiten und samstags eingesetzt werden – bei einem Einstiegsgehalt von acht Euro brutto.

Für Thomas Seibert von Medico International sind die Arbeitsverhältnisse im deutschen Einzelhandel sowie in den asiatischen Billiglohnländern zwei Seiten derselben Medaille: eines globalen Wirtschaftssystems, das auf Ausbeutung und gnadenlosem Wettbewerb beruht. Seine Organisation leistete deshalb nicht nur Nothilfe für die Opfer der Fabrikkatastrophen in Pakistan und Bangladesch, sondern unterstützt auch Aktionen wie Blockupy-Frankfurt, bei denen gegen die Verelendung und soziale Ungerechtigkeit in Europa protestiert wird. „Solidarität bedeutet heute nicht mehr, wir hier leisten Solidaritätsarbeit für die dort“, sagt Seibert. Auch die entwicklungspolitischen Organisationen im Norden sollten Solidarität als etwas verstehen, dass zeitgleich, gegenseitig und überall gelebt werden muss. „Es gibt Auseinandersetzungen jetzt in der Textilindustrie in Asien. Und wir müssen uns mit den Arbeitsbedingungen hier und unserem Konsumverhalten auseinandersetzen.“

Verdi-Kundgebung, Juni 2013 in Stuttgart: Im gelben Streikhemdchen steht Laura Bresson auf einem Anhänger und führt ein Straßentheater über die Arbeitsbedingungen in Bangladesch vor. Dann liest sie aus einem Schreiben der Textilgewerkschaft NGWF: „Es ist uns unverständlich, wie in Deutschland – einem der reichsten Länder der Welt – Löhne gezahlt werden, von denen Menschen nicht in Würde leben können“, heißt es darin.

800 Millionen Euro Gewinn macht H&M im ersten Halbjahr 2013. Im Juli verkündet Geschäftsführer Karl-Johan Persson, irgendwann in Zukunft wolle man nur noch faire Mode verkaufen. In Bangladesch wird das Arbeitsrecht überarbeitet und enthält nun auch das Recht, Tarifverhandlungen zu führen. Die Opfer und Hinterbliebenen der Fabrikkatastrophen warten weiterhin auf Entschädigung. In Wiesbaden sagt Laura Bresson, es sei doch eigentlich ganz einfach, dass alle mehr Lohn wollen, Mütter hier wie dort besser unterstützt werden sollen, mehr in die Gesundheit der Angestellten investiert wird, man es im Unternehmen bis zur Rente schaffen kann. „Dass sie die Menschen nicht einfach austauschen wie Unterwäsche, sondern uns würdigen.“ 

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erschienen in Ausgabe 9 / 2013: Solidarität: Was Menschen verbindet
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