Im Januar brach im Norden des westafrikanischen Landes, in den Weiten der Sahara, eine seit langem schwelende Rebellion aus. Unter der Führung von Kämpfern, die nach dem Zusammenbruch des Regimes von Muammar al-Gaddafi aus Libyen geflohen waren, gewannen einige Hundert Tuareg rasch die Oberhand über eine schlecht ausgerüstete und demoralisierte nationale Armee. Ende März meuterten die Soldaten selbst und griffen den Präsidentenpalast mit Raketen an. Aus der Meuterei wurde ein ausgewachsener Staatsstreich und Präsident Amadou Toumani Touré tauchte ab.
In nur vierzehn Tagen hatten die separatistischen Tuareg-Rebellen im Norden, bekannt als Mouvement National pour la Libération de l’Azawad (MNLA), gemeinsam mit islamistischen Verbündeten die malische Armee aus den drei nördlichen Landesteilen – Kidal, Gao und Timbuktu – vertrieben. Hunderttausende Zivilisten flohen in den Süden und in die Nachbarländer Mauretanien, Niger und Burkina Faso. Während die Hauptstadt Bamako nach dem Staatsstreich durch politische Fehden gelähmt war, erklärte die MNLA die von ihr so bezeichnete Region Azawad für unabhängig. Es handelt sich um ein Gebiet mit Timbuktu in der Mitte, das sich von der algerischen Grenze im Norden bis südlich des Niger-Flusses erstreckt.
Autor
Gregory Mann
ist Dozent für Geschichte an der Columbia-Universität in New York und Experte für das frankophone Westafrika.Diese Pseudo-Republik behauptete von sich, multi-ethnisch zu sein. Doch die MNLA vertritt einen harten Kerns des Tuareg-Volkes, das in Malis Norden und im Land insgesamt eine kleine Minderheit darstellt. Außerdem unterstrich sie ihre säkulare Orientierung, und so herrschte ein fragiler Waffenstillstand zwischen ihren Kämpfern und den Verbündeten von Ansar Dine, einer salafistischen Bewegung unter der Führung des ehemals säkularen Tuareg-Rebellen Iyad Ag Ghali. Ag Ghali hatte in den frühen 1990er Jahren den letzten großen Tuareg-Aufstand angeführt, scheint aber nun – zwanzig Jahre später – wenig von der separatistischen Rhetorik der MNLA zu halten.
Stattdessen will er eine radikale Version des islamischen Rechtssystems, der Scharia, einführen. Und er war in schlechte Gesellschaft geraten: die der Al-Qaida des Islamischen Maghreb (AQMI). Der Waffenstillstand zwischen Ag Ghalis Männern und der MNLA bröckelte schnell. Nachdem sie sich kurzfristig unter dem Banner der Scharia zusammengetan hatten – die von der Basis der MNLA abgelehnt wird –, gewannen die Islamisten die Oberhand. Sie vertrieben die Tuareg aus den besetzten Städten und nahmen für sich die vollständige Kontrolle der malischen Sahara in Anspruch.
Nach dem Staatsstreich im Süden und der Abspaltung des Nordens entwickelte sich das Gebiet, das die MNLA als Azawad beansprucht, von einer instabilen, von Schmuggelrouten durchzogenen Region zu einem gefährlichen Niemandsland, das von gut bewaffneten kriminellen Banden mit lokalen Wurzeln und großen Ambitionen kontrolliert wird. Sie haben eine radikale Form pseudo-islamischer Selbstjustiz eingesetzt, die die versprengten Reste der Zivilbevölkerung schon bald verstörte. Steinigungen, Auspeitschungen und Amputationen von Gliedmaßen haben in der Region und weit darüber hinaus Empörung, Angst und blankes Entsetzen ausgelöst.
Einwohner der Städte Gao, Timbuktu und Kidal protestierten gegen das drakonische Regime der zumeist aus Nachbarländern stammenden Islamisten. Die Bewohner Gaos und Timbuktus, muslimischer Städte mit großer ethnischer Vielfalt und einer langen Tradition des Zusammenlebens, leiden unter einem Zustand, der in ihren Augen einer Besatzung gleichkommt. In Kidal beobachten viele etwas anderes: Ihre Revolution ist vereinnahmt worden. Die Außenwelt hingegen macht sich eher Sorgen um die Zerstörung muslimischer Grabstätten in Timbuktu, und sie fürchtet die Terrorismusbedrohung aus der Sahara, die sich weit über dieses Gebiet hinaus auswirken könnte.
Hat eine säkulare nationalistische Bewegung einer einzelnen Volksgruppe einen neuen sicheren Hafen für Terroristen geschaffen? Es mag so aussehen, aber es steckt mehr dahinter. Schon früher war der Norden Malis ein Ort, an dem Operationen diskret geplant und Geiseln praktisch straflos festgehalten werden konnten – anscheinend bestand ein unausgesprochener Nichtangriffspakt zwischen dem ehemaligen Präsidenten Touré und den jeweiligen Kidnappern. 2011 begann dieses Arrangement, sich aufzulösen.
Im vergangenen November erschossen Geiselnehmer mitten auf der Straße in Timbuktu einen Deutschen, als er sich gegen seine Verschleppung zur Wehr setzte. Seine drei Gefährten, allesamt mit europäischen Pässen, sitzen noch irgendwo in der Sahara fest. Auch sechs französische Staatsbürger – verschleppt aus Mali und dem Niger – befinden sich noch in der Wüste in Geiselhaft. Andere kamen bei stümperhaften Befreiungsversuchen ums Leben, und in den vergangenen Jahren haben besorgte ausländische Botschaften ihre Bürgerinnen und Bürger wiederholt vor Reisen in bestimmte Teile Malis gewarnt.
Europäische Staaten füttern die Bestie
Die Ironie der Geschichte ist, dass Europäer nicht nur im Einzelfall die Opfer, sondern auch die Hauptfinanzierungsquelle der terroristischen Netzwerke sind: ob direkt durch die Millionen Euro Lösegeld, die europäische Regierungen für die Befreiung ihrer Bürger gezahlt haben, oder indirekt durch den Konsum des Kokains, das durch die Sahara geschmuggelt und dessen Wert durch das Drogenverbot noch in die Höhe getrieben wird.
Während die europäischen Staaten die Bestie füttern, leiden die Menschen in Mali, und die afrikanischen Nachbarn spüren die Bedrohung unmittelbar. Der Bürgerkrieg der 1990er Jahre in Algerien, dem mächtigsten Staat der Region, war der Nährboden für die Entstehung der AQMI und das Land ist zusammen mit Frankreich nach wie vor eines der Hauptziele dieser Gruppe. Auch später entstandene Terrorgruppen wie MUJAO, eine Organisation aus der südlichen Sahara, haben Algerien im Visier. Vor einigen Monaten wurden sechs algerische Mitarbeiter des Konsulats in Gao verschleppt. Nachdem Algier die Freilassung eines Gesinnungsgenossen abgelehnt hatte, tötete MUJAO Anfang September eine der Geiseln. Für Außenstehende ist es schwierig zu beeinflussen oder auch nur vorherzusagen, welchen Kurs die innerlich gespaltene algerische Regierung einschlagen wird.
Aber auch für andere Nachbarn Malis, wie Niger, Nigeria und Mauretanien, steht einiges auf dem Spiel. Vor kurzem wurden die Nigerianer von Terrorangriffen auf Kirchen und Regierungsgebäude heimgesucht. Die dahinterstehende Gruppierung Boko Haram soll jetzt auch in Mali operieren. Nigeria, das einzige militärische Schwergewicht der Region, kann sichere Häfen und Ausbildungscamps so dicht an seiner Grenze kaum dulden. Niger ist ebenfalls in einer heiklen Lage: In den vergangenen drei Jahren wurden immer wieder Ausländer aus den Uranminen und aus der Hauptstadt entführt. Wie sein westlicher Nachbar hat Niger in der jüngsten Vergangenheit seine eigenen Erfahrungen mit Tuareg-Aufständen gemacht.
Unter dem Banner der Westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft ECOWAS würden diese beiden Länder bei einer möglichen Intervention die Führung übernehmen. Doch Niger hat bereits Verpflichtungen zur Sicherung des Friedens in Côte d’Ivoire übernommen. Unter dem Eindruck der verheerenden Missionen in Liberia und Sierra Leone unter der Führung Nigerias in den 1990er Jahren empfinden die Menschen in Mali außerdem blanken Horror angesichts der Möglichkeit, dass nigerianische Soldaten den Boden ihres Landes betreten könnten. Eine paradoxe Situation: Niemand glaubt, dass die malische Armee allein den Norden zurückerobern, die Terroristen vertreiben und der Zivilbevölkerung die Heimkehr ermöglichen kann. Andererseits lehnen die meisten Malier – einschließlich der Soldaten – jede ausländische Intervention und Hilfe ab. Damit leidet der Norden weiter, während die Situation im Süden stagniert. Alle sind sich einig, dass die Straße nach Timbuktu durch Bamako führt, wie es die französische Zeitung „Le Monde“ ausgedrückt hat: Eine handlungsfähige Regierung in der Hauptstadt ist der erste Schritt, um den Norden zurückzuerobern.
Mancher Politiker vergleicht Mali mit Afghanistan oder Somalia
Doch die politischen Kämpfe in Bamako sind ein Krieg der Schwachen. Keine Splittergruppe ist stark genug, um sich durchzusetzen. Die fragile Übergangsregierung hat die Macht in einem gemeinsam mit ECOWAS ausgehandelten Deal von der Militärjunta übernommen. Sie ist eine Geisel der Ex-Junta, die ihre Autorität bedroht. Zudem unterliegt sie der Herrschaft des Pöbels, wie sich im Mai bei einem Angriff auf den Interimspräsidenten Dioncounda Traoré zeigte, der in seinem Büro beinahe tot geprügelt wurde.
Traoré war gezwungen, zur Genesung nach Paris zu fliehen. Obwohl er inzwischen zurückgekehrt ist, scheint niemand in Bamako wirklich das Heft in der Hand zu haben. Premierminister Cheick Modibo Diarra erweckt mitunter diesen Eindruck, steht aber zugleich in der Kritik, mit den Anführern der Ex-Junta und dem burkinischen Präsident Blaise Compaoré zu stark verbandelt sein, der im Auftrag von ECOWAS in der Mali-Krise vermitteln sollte. Das Kräfteverhältnis zwischen Premierminister Diarra und Präsident Traoré ist wechselhaft. Die Regierung der nationalen Einheit, die Traoré Ende August eingesetzt hat, scheint die Zahl der Gruppierungen, die sich die Macht im Land gegenseitig streitig machen, sogar noch vergrößert zu haben. Einige Oppositionspolitiker haben Delegationen zu Gesprächen mit Iyad Ag Ghali und Ansar Dine in den Norden entsandt.
Während ihnen die Abspaltung des Nordens als inakzeptabel gilt, halten sie den Säkularismus, der lange Zeit einer der grundlegenden Werte des Landes war, für verhandelbar. Inzwischen haben andere Bewohner des Nordens, die nicht den Tuareg angehören, mit der Aufstellung eigener Milizen begonnen – in der Hoffnung, den Norden selber wiederzuerobern, wenn die Armee schon nicht einschreitet. Als gerissener Politiker hat Ag Ghali mehr Erfahrung als jeder einzelne von ihnen. Obwohl nicht ganz klar ist, was er genau anstrebt, sollten sich Außenstehende darauf gefasst machen, dass er sein Ziel erreichen wird.
Angesichts der schwierigen Lage munkeln europäische und amerikanische Beobachter von Interventionen und suchen nach Analogien. Manche vergleichen Mali mit Afghanistan oder Somalia. Aber Mali ist nicht im Entferntesten so stark militarisiert wie diese beiden Länder. Der Drogenhandel, der für Afghanistan als Produktionsstätte so wichtig ist, hat in Mali, einer reinen Transitregion, ein völlig anderes Profil. Wahr ist aber, was nicht ausgesprochen wird: Kräfte von außerhalb haben schon jetzt eine wesentliche Rolle bei der Entstehung der aktuellen Krise in der malischen Sahara gespielt – genau wie das seinerzeit in Afghanistan und Somalia der Fall war.
In der Sahara haben europäische Lösegeldzahlungen Geiselnehmern ein äußerst lukratives Geschäft eröffnet. Die NATO-Intervention in Libyen setzte gut bewaffnete Kämpfer der Tuareg frei, die aus den Reihen von Muammar al-Gaddafis Armee nach Mali zurückkehrten. Wenn Mali in irgendeiner Hinsicht Afghanistan oder sogar Somalia gleicht, dann darin, dass eine direkte europäische oder amerikanische Intervention die ohnehin heikle Lage wahrscheinlich verschärfen würde. Selbst eine von Afrikanern angeführte Intervention würde europäische oder amerikanische Hilfe in Form von Luftunterstützung und dem Austausch von nachrichtendienstlichen Erkenntnissen erfordern. Bis dahin könnte der sinnvollste Kurs der sein, der dem französischen Präsidenten François Hollande gezwungenermaßen auferlegt ist: Zuhören, beobachten und abwarten.
Aus dem Englischen von Barbara Kochhan.
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