Entwicklung neu denken

Weniger Armut, mehr Bildung, mehr Rechte – in den vergangenen 70 Jahren waren viele Entwicklungserfolge zu verzeichnen. Doch jetzt droht der Trend sich umzukehren. Die globale Finanzkrise und der Klimawandel verursachen Verwerfungen, die mit den herkömmlichen Modellen nicht in den Griff zu kriegen sind.

Vielen Europäern bereiten vor allem die Probleme in Europa Kopfzerbrechen. Das ist verständlich, doch außerhalb Europas spielen sich weit dramatischere Vorgänge ab. Das Zeitalter der Entwicklungsfortschritte gelangt nach 70 Jahren, in denen bei Bildung, Lebenserwartung und Menschenrechten mehr als je zuvor erreicht worden ist, an einen Moment der Entscheidung. Das Ende der Armut, ein Mindesteinkommen für alle und die Gestaltung des Übergangs zu einer schrumpfenden und alternden Weltbevölkerung scheinen zum Greifen nah. Doch kurz vor dem entscheidenden Durchbruch steht das Projekt „Entwicklung“ vor ökologischen und finanziellen Gefahren und tritt in eine Phase von Chaos und Verunsicherung.

In den vergangenen fünf Jahren wurde die Welt von drei heftigen Turbulenzen erschüttert: der globalen Finanzkrise, dem drastischen Anstieg der Lebensmittelpreise und dem Arabischen Frühling. Hinzu kommt eine Art Schiffbruch in Zeitlupe: Ein chaotischer Klimawandel macht sich immer stärker bemerkbar. Zusammen haben diese Faktoren die Entwicklungspolitik und unsere Vorstellungen davon, wie sich die Welt wandelt, gründlich verändert.

Die weltweite Finanzkrise hat geopolitische Veränderungen von historischem Ausmaß nach sich gezogen. Das Gewicht der Schwellenländer ist gewachsen und die G8, das Forum der acht mächtigsten Industriestaaten, wurde als Zentrum der Abstimmung über globale Wirtschaftsfragen von der G20 abgelöst, der auch Schwellenländer angehören. Die Finanzkrise hat sichtbar gemacht, wie gefährlich es ist, wenn die Weltwirtschaft zu stark vom Finanzsektor bestimmt wird. Doch es ist nicht gelungen, den enormen Umfang der schnell um den Globus vagabundierenden spekulativen Geldströme einzudämmen. 

Seit 2007 hat sich zudem der jahrzehntelange Trend stetig sinkender Preise für Lebensmittel ins Gegenteil verkehrt. Mehrfache starke Anstiege der Lebensmittelpreise wirken sich auf die arme Bevölkerung in vielen Ländern viel schlimmer aus als die Finanzkrise. Die langfristigen Fortschritte im Kampf gegen Hunger und Unterernährung sind in Gefahr. Und es sieht so aus, als ob dieser neue Trend anhalten wird und wir es in absehbarer Zukunft mit hohen und stark schwankenden Nahrungsmittelpreisen zu tun haben werden. Die Ursachen dafür werden kontrovers diskutiert. Zu ihnen gehören der Landverbrauch für die Produktion von Biokraftstoffen, der Anstieg des Fleischkonsums in den Schwellenländern, die gestiegenen Ölpreise (die kommerzielle Landwirtschaft ist auf fossile Brennstoffe angewiesen) und die Spekulation mit Lebensmitteln.

Mit dem Anstieg der Lebensmittelpreise ist die Landwirtschaft wieder ins Zentrum der öffentlichen Wahrnehmung gerückt. Man fordert für sie vermehrt finanzielle Hilfe und Investitionen und besinnt sich auf die tragende Rolle der Kleinbauern als Produzenten und Verbraucher. Sie können, wie es in Vietnam der Fall war, den Anstoß zu einer erfolgreichen gesamtwirtschaftlichen Entwicklung geben. Doch leider hat das stärkere Interesse an der Ernährungssicherheit auch dazu geführt, dass Investoren aus reichen Ländern in großem Umfang Anbauflächen in Entwicklungsländern erwerben. Im vergangenen Jahrzehnt wurden weltweit Flächen verkauft oder verpachtet, die zusammen fast sechsmal so groß sind wie die Bundesrepublik Deutschland (203 Millionen Hektar). Das von 2000 bis 2010 vergebene Land würde ausreichen, um eine Milliarde Menschen zu ernähren – genauso viele, wie derzeit Hunger leiden.

Doch nicht alle Erschütterungen der vergangenen Jahre waren beklagenswert. Während des Arabischen Frühlings bot sich zum ersten Mal seit Jahrzehnten die Möglichkeit, in ganz Nordafrika und im Mittleren Osten Formen der Demokratie zu verbreiten. Das bestätigt, wie wichtig aktive Bürger für politische Veränderungen sind. Der Arabische Frühling gibt auch Anlass, verstärkt nachzudenken über die Rolle der Frauen in islamischen Gesellschaften und über die komplexe Struktur sozialer Bewegungen, in denen unterschiedliche Gruppen „Zellen“ bildeten, um die sich spontane Teilnehmer scharen können.

Den düsteren Hintergrund dieser drei Ereignisse bildet das unerwartete Tempo des Klimawandels. Laut neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen schreiten der Temperaturanstieg auf der Erde und das Schmelzen der polaren Eiskappen schneller voran, als es selbst die ungünstigsten Prognosen erwarten ließen. Und statt stetiger Veränderungen sehen wir in vielen Entwicklungsländern eher ein klimatisches Chaos. Die Regenzeiten werden unberechenbarer, Dürren und Überflutungen wechseln sich auf unvorhersehbare Weise ab, Stürme von bisher unbekannter Heftigkeit und überraschende Kälteeinbrüche zerstören Ernten. Bisher konnten sich die Bauern auf die Erfahrung vieler Generationen stützen, doch mit diesen Entwicklungen sind sie überfordert.

Hilfsorganisationen müssen ihren Schwerpunkt auf Machtfragen verlagern

Die drei Schocks und die Zunahme extremer Wetterereignisse machen deutlich, welche Bedeutung Unsicherheit, Preisschwankungen, Risiken und Verwundbarkeit für arme Menschen haben. Deshalb konzentriert sich die Entwicklungspolitik heute einerseits darauf, wie sich Gesellschaften besser an veränderte Umstände anpassen und widerstandsfähiger werden können, und andererseits darauf, wie weitere Schocks abgemildert oder verhindert werden können. Man denkt verstärkt über vorbeugende Maßnahmen nach: die soziale Sicherung verbessern, Lebensmittelreserven anlegen oder sich selbst verstärkende Kreisläufe an den Finanzmärkten unterbrechen.

Doch die Folgen für das Entwicklungsdenken gehen noch weit tiefer. Die jüngsten Erschütterungen und ihre Folgen machen klar, dass es unangemessen ist, von einer linearen Entwicklung und stetig fortschreitenden Veränderungsprozessen auszugehen. Die traditionellen Mechanismen der Planung und der Erfolgskontrolle in der Entwicklungsarbeit sind damit infrage gestellt. Oxfam hat unlängst einen Spezialisten für komplexe Systeme in den Norden Kenias geschickt, um die dortigen Projekte zu evaluieren. Vermutlich werden die Erkenntnisse, die aus solchen interdisziplinären Untersuchungen gewonnen werden, in den kommenden Jahren eine wichtige Rolle spielen.

Autor

Duncan Green

ist politischer Berater der britischen Hilfsorganisation Oxfam und Autor des Buches „From Poverty to Power“. Dieser Essay ist aus der Arbeit an der aktualisierten Neuauflage des Buches (November 2012) hervorgegangen.

Ferner versuchen wir zu verstehen, welche Konsequenzen es hat, wenn wir das globale Ökosystem als ein geschlossenes System begreifen, das an die Grenzen unseres Planeten gebunden ist. Wenn wir anerkennen, dass das menschliche Handeln klare Grenzen achten muss, dann gewinnt die Ungleichheit eine größere Bedeutung. Wem soll zum Beispiel der Zugriff auf die verbleibenden fossilen Brennstoffe zugestanden werden, wenn das Recht auf Schadstoffausstoß eingeschränkt werden muss? Wenn die Größe des Kuchens begrenzt ist, kommt es umso mehr darauf an, wie die Stücke aufgeteilt werden. Zunehmend werden Gerechtigkeit und Umverteilung auch in der politischen Mitte wieder debattiert; selbst der Internationale Währungsfonds betont, dass Ungleichheit Wachstum und Stabilität gleichermaßen gefährdet.

Zu den politischen Turbulenzen kommen eher graduelle, aber nicht weniger wichtige Veränderungen der Faktoren, die für die Entwicklungspolitik wichtig sind. Die Zusammensetzung der Menschheit wandelt sich aufgrund demografischer Verschiebungen: Bei der Zahl der Kinder haben wir einen Höhepunkt überschritten, denn zum ersten Mal in der Geschichte nimmt die Zahl der Geburten ab. In vielen Entwicklungsländern wird das Durchschnittsalter der Menschen in den kommenden Jahrzehnten steigen. Damit werden die Systeme der Sozialfürsorge zusätzlich belastet, die vielerorts noch wenig entwickelt sind. Seit 2007 lebt zudem die Weltbevölkerung mehrheitlich in Städten. Doch in den Institutionen der Entwicklungshilfe zeigt sich noch keine große Bereitschaft, die weit verbreitete romantische Verklärung des Kleinbauerntums aufzugeben. 

Die mehrfachen demografischen Umwälzungen sind eine echte Aufgabe für das entwicklungspolitische Denken. Um nur ein Beispiel zu nennen: Bis 1990 lebte die große Mehrheit der Armen in Ländern mit niedrigem Einkommen; inzwischen leben 80 Prozent von ihnen in Staaten mit mittlerem Einkommen, denn zu denen zählt heute etwa Indien infolge seines Wirtschaftswachstums. Das ist nicht nur eine willkürliche Klassifizierung: In Ländern mit mittlerem Einkommen sind innenpolitische Maßnahmen, Steuern zu erheben und Sozialausgaben zu zahlen, für die Armutsbekämpfung wichtiger als Entwicklungshilfe.

Angesichts all dieser Veränderungen wird schließlich grundsätzlich hinterfragt, was Armut und Entwicklung eigentlich bedeuten. Auf der ganzen Welt stellen immer mehr Regierungen fest, dass das Pro-Kopf-Einkommen oder das Bruttoinlandsprodukt als Maßstab der Lebensqualität nicht ausreichen, und sie entwickeln differenziertere Bewertungskriterien. In dieser Hinsicht sind sie den Hilfsorganisationen eher voraus. Die Orientierung an der Lebensqualität ist Teil einer veränderten Auffassung davon, was es heißt, arm zu sein. Wie die wegweisende Weltbank-Studie „Stimmen der Armen“ (Voices of the Poor) von 1999 zeigt, ist das Erleben von Zukunftsangst, Ohnmacht und Scham für arme Menschen mindestens ebenso wichtig wie die Höhe ihres Einkommens.

Der eher subjektive Begriff von Lebensqualität ist wohl ein Grund dafür, dass die Entwicklungspolitik sich zunehmend auf Fragen von Macht, Handlungsmöglichkeiten und Mitsprache konzentriert. Die Aufgabe von Hilfsorganisationen und anderen Institutionen der Entwicklungshilfe ist, sicherzustellen, dass ihre Ansätze und Methoden – einschließlich der Versuche, Ergebnisse und wirtschaftliche Effizienz nachzuweisen – diesem neuen, menschlichen Verständnis von Armut und Macht entsprechen. Wir müssen sowohl in der Theorie wie in der Praxis unseren Schwerpunkt von Armutsbekämpfung auf Machtfragen verlagern.

Können wir es schaffen, das Zeitalter der Entwicklung zu einem erfolgreichen Abschluss zu bringen? Oder werden neue Konflikte und chaotische Klimaveränderungen dazu führen, dass wir kurz vor dem Ziel Schiffbruch erleiden? Man kann sich kaum an eine Zeit erinnern, in der Optimismus und Pessimismus so stark nebeneinander bestanden. Es steht viel auf dem Spiel. Die nächsten Jahrzehnte werden entscheiden, ob die Armut ebenso zur bloßen Geschichte wird wie die Sklaverei und das Wahlrecht nur für Männer – oder ob ein neues, von Knappheit und Chaos bestimmtes Zeitalter den Fortschritt der vergangenen 70 Jahre wieder umkehren wird.

Aus dem Englischen von Anna Latz

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Sehr geehrte Damen und Herren,
wunderbar, dass Sie zu diesem Thema eine Serie machen wollen! Es ist wirklich Zeit, die Entwicklungspolitik neu zu denken, und es ist viel wichtiger, diese inhaltlichen Fragen anzugehen als den Begriff anzugreifen und eventuell zu ersetzen, wie es offenbar auf Ihrer Fünf-Jahr-Feier gefordert worden ist.
Der Autor spricht die wichtigen Punkte, die neuen Herausforderungen für die internationale Entwicklungsarbeit an. Nicht alles ist neu; neu ist aber, dass die Augen nicht mehr davor verschlossen werden und weitergemacht wird wie bisher, obwohl die Probleme mit Händen zu greifen sind und der wichtige Lösungsfaktor "Zeit" zwischen den Fingern zerrinnt.
Es macht Hoffnung, dass jetzt in der Entwicklungsarbeit Tätige und Entscheidungsträger richtig analysieren, dabei nicht stehen bleiben und die schwierige praktische Umsetzung angehen, sich der für den Erfolg entscheidenden Machtfragen bewusst sind (wenn man sich denen stellt, gibt es kräftig "Prügel", die weh tun!) und trotzdem die Perspektiven/Visionen ihrer Arbeit nicht aus den Augen verlieren.
Beeindruckend, dass der Autor die Weltbank-Studie "Stimmen der Armen" zitiert - dieses Augen öffnende Dokument schien mir in Vergessenheit geraten, zu einem "Non-Paper" geworden zu sein.
Vielleicht erleben wir es ja, dass sich die deutsche Entwicklungspolitik ab Herbst dieses Jahres auf den hier skizzierten Weg begibt und das "Neue" unserer Entwicklungspolitik nicht länger im Wesentlichen in Wirtschaftsförderung und in publicity-trächtigen Ministerauftritten mit Bill Gates und seiner Stiftung besteht.
Mit freundlichen Grüßen
Cay Gabbe

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