Im Schatten des Staates

Fast ohne Gegenwehr konnten islamistische Kämpfer den Norden Malis unter Kontrolle bringen, bis die Intervention Frankreichs sie zurückwarf. Doch das liegt nicht daran, dass Malis Regierung in dem Wüstengebiet keinen Einfluss hatte. Im Gegenteil: Ihre Herrschaft mittels lokaler Milizen hat die Islamisten stark gemacht. Frankreich greift nun auf ähnliche Methoden zurück.

Mehrmals hat der britische Premierminister David Cameron Nordmali als „regierungsfreien Raum“ bezeichnet. Damit verschreibt er sich der oberflächlichen Analyse derer, die nach einfachen Erklärungen suchen, wenn irreguläre bewaffnete Gruppen – darunter Al-Qaida nahestehende – in Afrika und anderswo Fuß fassen. Diese Auffassung führt zu gefährlich falschen Vorstellungen von der politischen und sozialen Realität Malis. Vor allem suggeriert sie, die Terroristen hätten ihre Hochburg in einem politischen Vakuum errichtet.

Dadurch werden diejenigen von der Verantwortung für die gegenwärtige Lage in Mali freigesprochen, die das politische Umfeld bestimmt haben, das zur erneuten Rebellion der säkular orientierten Tuareg von der separatistischen Bewegung für die Befreiung des Azawad (MNLA) im Januar 2012 geführt hat. Die MNLA wurde dann von einer Koalition aus Al-Qaida-nahen Gruppen und Tuareg aus der strengen islamischen Glaubensrichtung des Salafismus verdrängt.

Warum konnte Al-Qaida im Islamischen Maghreb (AQIM) in Nordmali nach und nach zur dominierenden Kraft werden und zwischen April 2012 und Januar 2013 zwei Drittel des Staatsgebietes unter ihre Kontrolle bringen? Die Antwort auf diese Frage hat nur am Rande damit zu tun, dass die Sahara weitgehend unbewohnt und ihr Gelände schwer zugänglich, rau und zerklüftet ist. Die Wüste hat im benachbarten Mauretanien oder dem Niger einen ähnlichen Charakter wie in Mali; aber nur hier wählten die algerischen Salafisten, die 2003 aus ihrem Heimatland flohen und später AQIM in Mali gründeten, ihren Zufluchtsort.

Autor

Yvan Guichaoua

lehrt Politik und Internationale Entwicklung an der Univerity of East Anglia in Großbritannien. Der Experte für Westafrika hat am Mali-Bericht der International Crisis Group von Mitte 2012 mitgearbeitet.

Das Auftreten von AQIM im nördlichen Mali wurde jahrelang von den Behörden in der Hauptstadt Bamako geduldet. Westliche Mächte nahmen zunächst an, dass die Regierung deshalb so passiv bleibe, weil es ihr an militärischen Fähigkeiten fehle. Aber dann floss zur Unterstützung der Terrorismusbekämpfung Geld aus dem Ausland nach Mali, ohne dass die Bedrohung spürbar abnahm. Nun begannen die westlichen Geber daran zu zweifeln, dass die malische Regierung AQIM wirklich bekämpfen wollte. Geradezu schizophren war, dass dieselben Geber noch zum Stillstand beitrugen, indem sie AQIM großzügig Lösegeld für die Freilassung von Geiseln aus ihrem jeweiligen Staat zahlten. So förderten sie ein profitables Geschäft, das nicht nur die Taschen der Dschihadisten füllte, sondern auch die der Mittelsmänner, die an Verhandlungen über die Freilassung von Geiseln beteiligt waren. Einer davon war Iyad Ag Ghaly, der später zum gefürchteten Anführer von Ansar Dine werden sollte – einer der islamistischen Gruppen, die Nordmali 2012 unter ihre Kon-trolle brachten. Zuvor arbeitete er Hand in Hand mit dem malischen Regime, das ebenfalls seinen Anteil am Lösegeld kassierte.

Parallel zum Aufstieg von AQIM, bei dem die Regierung in Bamako zusah, verschlechterten sich die Beziehungen zwischen der Zentralregierung und dem unruhigen Norden des Landes. Der war seit der Unabhängigkeit von Frankreich im Jahr 1960 regelmäßig von Aufständen der Tuareg erschüttert worden. Fünf Jahrzehnte forderten Militante unter ihnen mehr Autonomie und Entwicklung für ihre Region, konnten aber keinen Konsens unter den verschiedenen Tuareg-Gruppen herstellen – ganz zu schweigen von einer Verständigung mit den anderen sehr unterschiedlichen Ethnien, die im Norden Malis leben, insbesondere den Arabern, den Songhai und den Fulani.

Zwischen 2006 und 2009 leistete Ibrahim Ag Bahanga, ein junger Tuareg-Offizier aus der Region Kidal, heftigen Widerstand gegen jede Einigung mit der Zentralregierung. Um die davon verursachten Unruhen einzudämmen, lieferte die Regierung Waffen an Milizen, die sich aus jenen Volksgruppen und Klientel-Netzwerken im Norden rekrutierten, denen Bahangas Ziele widerstrebten. Diese Milizen nutzten den Schutz des Staates für ihre eigenen Interessen, darunter den grenzüberschreitenden Drogenhandel.

So nahm in den Jahren vor dem Aufstand der MNLA 2012, der maßgeblich von Bahanga geprägt war, die Zahl informeller bewaffneter Gruppen unter dem Schutz der Regierung stark zu. Sie waren Teil eines lockeren Systems staatlicher Kontrolle, das einen Anschein von öffentlicher Ordnung vermittelte. Das System brach zusammen, als die MNLA – gestärkt von Waffennachschub aus Libyen – Anfang 2012 die malische Armee aus dem Norden des Landes vertrieb. Doch ein großer Teil von deren Kämpfern tauchte wieder auf, als die MNLA nach Timbuktu und Gao vorrückte: Sie kündigten in einem dramatischen Loyalitätswechsel der Regierung in Bamako die Gefolgschaft auf und schlossen sich der Koalition unter Führung von AQIM an, die schließlich die MNLA vertrieb und den Norden des Landes unter ihre Kontrolle brachte.

Die Islamisten, jetzt Todfeinde der französischen und der malischen Armee, sind also Begleiterscheinungen des Herrschaftssystems in Nordmali. Geschaffen wurde es von einem Netz politischer und ökonomischer Interessen, das sich von Malis Hauptstadt Bamako bis in die nördlichen Provinzen Gao, Timbuktu und Kidal erstreckt. Die Ursache für die Teilung Malis in den vergangenen Monaten liegt nicht in Faktoren, die für einen „regierungsfreien Raum“ typisch sind, sondern in vergifteten Beziehungen zwischen dem Norden und dem Süden. Tatsächlich ist Nordmali in den vergangenen Jahren streng regiert worden, bloß nicht nach den Standards eines rationalen Rechtssystems. Das Regierungssystem hat Entwicklung behindert und ist nur einigen wenigen zugutegekommen – in Gao, Timbuktu und Kidal, aber auch, und das ist entscheidend, in Bamako.

Aus der Theorie von „regierungsfreien Räumen“ folgt, dass man, um Terroristen zu vertreiben, das von ihnen ausgenutzte politische Vakuum durch eine legitime Regierung ersetzen müsse. Nun ist für die meisten internationalen Geber Legitimität überwiegend an die Zentralregierung gebunden. Der Ansatz würde deshalb bedeuten, sich beim Wiederaufbau auf genau die Drahtzieher und Repräsentanten in Bamako zu verlassen, die maßgeblich für die gegenwärtige Krise verantwortlich sind. Es wäre aber dumm, Mali den Nordteil seines Territoriums zurückzugeben, ohne die Nord-Süd-Beziehungen im Land radikal zu überdenken.

Die Aufgabe für die Malier ist jetzt nicht, eine Verwaltung nach dem Ideal von Max Webers rationaler Herrschaft einzusetzen – das ist eine Illusion. Es geht darum, all denen im Norden eine Stimme zu geben, über deren Leben bisher kriminalisierte Eliten und ihre bewaffneten Vertreter bestimmt haben, und von innen eine legitime politische Vertretung aufzubauen. Was bedeuten dafür die Auswirkungen der französischen Intervention?

Ob die Islamisten wirklich die Absicht hatten, Bamako einzunehmen, ist unklar

Der offizielle Auslöser der französischen Militäroffensive war die Gefahr, dass Bamako in die Hände der Islamisten fallen könnte. Die Intervention begann am 11. Januar und führte schnell zur Vertreibung islamistischer Truppen aus den wichtigsten Städten in Nordmali. Ob die Islamisten wirklich die Absicht hatten, Bamako einzunehmen, ist unklar. Möglicherweise war ihr Hauptziel Sérvaré und sein strategisch wichtiger Flughafen 600 Kilometer nordöstlich der Hauptstadt. Laut französischen Sicherheitskreisen arbeiteten jedoch zur gleichen Zeit Gefolgsleute der früheren Junta in Bamako, die im März 2012 den Präsidenten Amadou Toumani Touré gestürzt und inzwischen eine Übergangsregierung eingesetzt hatte, auf einen neuen Staatsstreich hin und wollten das mit der islamistischen Offensive in Richtung Süden „verbinden“ – daher die schnelle und harte Reaktion Frankreichs. Es ist zu früh, diese Darstellung zur Wahrheit zu erklären, aber sie ist plausibel.

Als sicher kann gelten, dass hinter Frankreichs Eingreifen in erster Linie sicherheitspolitische Anliegen standen. Während die USA da-rauf beharrten, Wahlen seien eine Voraussetzung für die Wiederherstellung von Malis territorialer Inte-grität, befürwortete Frankreich schon lange eine militärische Option. Paris fürchtete, die Dschihadisten könnten in Westafrika „unantastbar“ werden und andere Länder gleichsam infizieren – Terroranschläge auf französischem Boden eingeschlossen. Die Befreiung Malis aus seiner verfahrenen politischen Lage wurde als weniger dringlich betrachtet, obwohl offiziell geplant war, zweigleisig – politisch und militärisch – vorzugehen.

Nun dauert der Militäreinsatz an und beeinflusst entscheidend die politische Landschaft, in der sich Bemühungen um Frieden entwickeln sollen. Er produziert vorläufige Gewinner und Verlierer und eine provisorische Ordnung. Frankreich hat sich für eine Allianz mit der säkular ausgerichteten MNLA entschieden. Deren konstant prowestliche Haltung, mit der die Bewegung vom Kampf gegen den Terrorismus profitieren wollte, wird endlich belohnt – zum stillen Ärger der Regierung in Bamako. Allerdings wird die MNLA aus strategischen Gründen und eher vom französischen Militär als von der Diplomatie gefördert. Denn die MNLA bietet die Informationen und die lokalen Hilfstruppen, die Frankreich braucht, zumal acht französische Staatsbürger von Al-Qaida im Islamischen Maghreb in diesem Gebiet festgehalten werden.

Als Folge kann die malische Armee sich noch immer nicht nach Kidal wagen, wo die MNLA sowie eine Abspaltung von Ansar-Dine, deren Mitglieder ursprünglich zur MNLA gehörten, ihre Hochburg haben. Diese Situation hat ihr Gutes, weil die Tuareg-Bevölkerung aus guten Gründen große Angst vor der undisziplinierten und niemandem rechenschaftspflichtigen Armee hat. Aber es bedeutet auch, dass Frankreich zwei bewaffnete Gruppen als Helfer he-ranzieht, bei denen fraglich ist, wie weit sie die Tuareg-Bevölkerung repräsentieren; ihre Gewalttaten der vergangenen Monate müssen zudem noch untersucht werden.

In Gao sieht die politische Lage anders aus. Hierhin ist Elhadj Ag Gamou zurückgekehrt, ein regierungstreuer Tuareg-Offizier, dessen Truppen in Niger an der Grenze zu Mali bleiben mussten, nachdem sie von der MNLA besiegt worden waren. Ob er Frankreich um Erlaubnis gefragt hat zurückzukehren, ist unklar, aber zumindest haben die französischen Truppen es zugelassen. Ag Gamous Rückkehr verhindert wahrscheinlich Rachemorde an der „hellhäutigen“ Bevölkerung von Gao, wirft jedoch ebenfalls ein politisches Problem auf: Ag Gamou wirkte zuvor entscheidend mit an der von Malis früherem Regime installierten ferngesteuerten Verwaltung und machte sich dieses Herrschaftssystem zunutze – vor allem gegen seine Rivalen unter den Tuareg.

Es muss ein politischer Prozess in Gang gesetzt werden, an dem wirklich alle beteiligt sind

Timbuktu bietet wiederum ein anderes, komplizierteres Bild. Hier, wo Araber einen großen Teil der Bevölkerung ausmachen, sind die Franzosen zusammen mit der malischen Armee eingezogen. Sogleich wurden Läden, die in arabischer Hand sind, geplündert, die Armee hat Vergeltungsmorde verübt und einige Mitglieder der arabischen Gemeinschaft sind verschwunden. Araber haben Timbuktu in Scharen verlassen und Zuflucht 70 Kilometer nördlich der Stadt gefunden – ohne jede Existenzgrundlage, wie ihre Führer sagen.

Warum hat sich Frankreich in Timbuktu nicht an die Strategie gehalten, lokale Gruppen hinzuzuziehen, wie sie es in Kidal und Gao mehr oder weniger planmäßig getan haben? Der arabische Oberst Ould Meydou hätte sich geradezu angeboten, die malische Armee nach Timbuktu zu führen: Er hatte unter dem im März 2012 gestürzten Präsidenten Touré und an der Seite von Ag Gamoue gegen die MNLA gekämpft. Vielleicht war Paris gezwungen, ihn zu übergehen, um gefährliche Spannungen mit den Militärs, die Touré gestürzt hatten, zu vermeiden. Als Folge bangen Führer der arabischen Bevölkerungsgruppe jetzt nicht nur um das Überleben ihrer Gemeinschaft, sondern beschweren sich, Frankreich benachteilige sie, obwohl sie sich doch immer zu Malis territorialer Einheit bekannt hätten. Sie überlegen sogar, zum Selbstschutz einige ihrer früheren Milizen zu reaktivieren. Auch Führer anderer Volksgruppen, die noch nicht offizielle Partner bei der „Befreiung“ des Landes sind, beschweren sich – zum Beispiel Mossa Ag Intazoume, der für die Bellah spricht, die früheren Sklaven der Tuareg.

Frankreichs Eingreifen macht die komplexen und von heftigen Konflikten geprägten Beziehungen zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen noch schwieriger. Eifrigen lokalen Hilfstruppen verleiht es von außen eine Pseudolegitimität, während andere Gruppen übergangen werden. Das kann schnell Spannungen anheizen, welche sich die Dschihadisten zunutze machen können. Das Eingreifen Frankreichs provoziert auch außergerichtliche Strafaktionen, wie von der malischen Armee verübte Hinrichtungen zeigen. Letztlich kann es dazu führen, illegitimen Führern, die ihre starke Position nur dem geschickten Umgang mit den Europäern verdanken, noch mehr Macht zu geben.

Frankreich hofft, bald von UN-Friedenstruppen abgelöst zu werden. Die aber werden dem Land womöglich eigene Regierungsgremien aufzwingen, je nachdem wie sie die wechselhaften und instabilen lokalen Gegebenheiten deuten. Eine Art Neo-Treuhandschaft kann entstehen, bei der in der Regel unter der Aufsicht multilateraler Organisationen die Macht unter verschiedenen Institutionen verteilt wird. Dafür gäbe es in Mali wahrscheinlich viele lokale Partner, die in den Augen des Westens, nicht jedoch in den Augen der Bevölkerung legitimiert wären. Schlimmer noch: Das kann die Entstehung von Initiativen an der Basis behindern.

Um das zu vermeiden, ist es wichtig, unter den Gemeinschaften im Norden Malis einen politischen Prozess in Gang zu setzen, an dem wirklich alle beteiligt sind. Gefragt sind Schritte zur Friedenskonsolidierung an der Basis, eine neue Dezentralisierung staatlicher Stellen, Investitionen in die Infrastruktur, Gespräche über die Zusammensetzung und Stationierung von Sicherheitskräften, ein interreligiöser Dialog und natürlich Wahlen. Absolut notwendig ist, die Gewalt gegen Zivilisten unverzüglich zu beenden.

Aus dem Englischen von Elisabeth Steinweg-Fleckner

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erschienen in Ausgabe 4 / 2013: Wasser
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